MacCord - 2015 - 01

MacCord, K., G. Caniglia, J. E. Moustakas‐Verho & A. C. Burke (2015): The dawn of chelonian research: Turtles between comparative anatomy and embryology in the 19th century. – Journal of Experimental Zoology Part B Molecular and Development Evolution 324(3): 169-180.

Der Beginn (Morgendämmerung) der Schildkrötenforschung: Schildkröten zwischen Vergleichender Anatomie und Embryologie im 19. Jahrhundert.

DOI: 10.1002/jez.b.22587 ➚

Viele der Evolutions-Entwicklungs-Studien zum Schildkrötenpanzer bedienen sich der Hypothesen und der unterstützenden Belege aus alten historischen Werken. Die bahnbrechenden Arbeiten der Wissenschaftler wie Cuvier, Geoffroy St. Hilaire, Carus, Rathke, Owen, und anderen werden in der modernen heutigen Wissenschaft wiederbelebt und das darin enthaltene Jahrhunderte alte Verständnis des Schildkrötenpanzers neu überdacht. In den Arbeiten dieser bedeutenden Biologen des 19. Jahrhunderts bildete das Studium der vergleichenden Anatomie und Embryologie der Schildkrötenmorphologie die Grundlage für weiterführende Studien im Bereich der Entwicklungsbiologie, Histologie und Paläontologie. Unter Berücksichtigung des Einflusses, den diese Arbeiten noch auf die heutige moderne Forschung haben, ist es wichtig, eine gebührende Anerkennung für diese frühen Autoren zu entwickeln und zu verstehen, wie sie zu ihren Erkenntnissen und Schlussfolgerungen gelangten (z.B. was sie als Beweis anerkannten), ob es zwischen ihnen Diskussionen gab in Bezug auf das Verständnis zur Panzerentwicklung (z.B. was akzeptierten sie als eine angemessene Erklärung?) und nicht zuletzt die Frage, warum sich diese Männer, die zu den einflussreichsten und gewichtigsten Denkern und Anatomen ihrer Zeit zählten, überhaupt mit Schildkröten beschäftigten. Durch die Nachverfolgung und Offenlegung dieser Zusammenhänge und Erkenntnisse aus den historischen Schildkrötenpanzerstudien wollen wir einen informativen Beitrag zu den heutigen modernen Debatten über die Evolution und die Entwicklung des Schildkrötenpanzers leisten.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Dieser geschichtliche Rückblick auf eine der bedeutenden Zeitspannen für den anatomischen Erkenntnisgewinn, auf den sich viele unserer heutigen Lehrbücher noch beziehen, beinhaltet eine Fülle interessanter Literatur und sie zeigt auf, wie wissenschaftliche Erkenntnis von Persönlichkeiten geprägt und getragen wird. Dabei spielen zwei Aspekte eine wichtige Rolle, die hier nicht vordergründig diskutiert werden, die aber von Bedeutung sind. Das eine ist der so genannte Zeitgeist, der die Wissenschaft nicht unberührt lässt und der oft von den jeweiligen Wissenschaftlern zumindest aus der objektiven Beurteilung ihrer Befunde herausgehalten werden musste (siehe dazu Kommentar zu Sulloway 2009), und das andere eben die subjektive Betrachtungsweise, die wohl mehr mit dem Ego der jeweiligen Persönlichkeit zu tun hat. Insofern wird in dieser historischen Betrachtung, wie ich finde, sehr gut herausgearbeitet, wie zwei dieser Persönlichkeiten wie Cuvier und Geoffroy trotz unterschiedlicher Betrachtungsweisen, nämlich „Vergleichend Anatomisch Funktional“ bzw. „Entwicklungsbiologisch in Bezug zur Abstammung (unabhängig von der Funktion)“ trotzdem mit den Möglichkeiten ihrer Zeit zu sehr ähnlichen Erkenntnissen kamen, weil sie sich eben trotz unterschiedlicher Meinungen, mit dem was sie publizierten, auf die nachweisbaren Fakten stützten, was man so manchem unserer Zeitgenossen durchaus als Ratschlag ans Herz legen könnte. Hier standen sich damals zwei Konzepte gegenüber, nämlich Cuvier, der den Schildkrötenpanzer hauptsächlich funktionell als Schutzmechanismus betrachtete, wobei man sich darüber einig war, dass er aus den Rippen und dem Brustbein entstanden war, und Geoffroy, der ihm eine wesentliche funktionelle Bedeutung absprach, weil es für ihn nicht ins Bild passte, welchen Schutz der reduzierte Panzer mancher Wasserschildkröten, wie z. B. jener der Schnappschildkröte oder der weiche Panzer der Weichschildkröten bieten sollte. Für ihn war klar, wenn die Schutzfunktion das wesentliche Kriterium zu Bildung eines Panzers war, dann hätte er hartschalig bleiben müssen. Das sehen wir heute wohl etwas vielschichtiger, denn unterschiedliche Lebensräume erfordern aus heutiger Sicht mehr an Anpassungsvielfalt als nur Schutz. Man kann auch heute U-Boote nicht aus so dicken, schweren, druckresistenten Metallröhren bauen, dass darunter ihre Navigationsmöglichkeiten im Wasser so eingeschränkt würden, dass sie nichts anderes als eine zwar tiefer tauchende aber ansonsten „Lahme Ente“ darstellen würden. Interessanter als diesen persönlichkeitsgeprägten Exkurs finde ich die Frage, warum sich überhaupt so viele bedeutende Anatomen dieser Zeit auch mit Schildkröten befassten? Letzteres kam nicht von ungefähr, denn Schildkröten waren schon immer die Kreaturen, die nicht ins gängige Bild und in die Lehrmeinungen passten, und denen man deshalb eine besondere Beachtung schenkte, weil man eben nur schwer verstehen konnte, wie sich mit der Ausbildung dieses Panzers die gesamte Lage des Schultergürtels und der Verlauf der Muskulatur verändern musste. Wohl gemerkt, damals konnte man sich schwer vorstellen, wie sich das, was man da sah, von dem ableiten lassen sollte, was alle anderen Wirbeltiere an Homologien (Vergleichbarem) im Körperbau aufwiesen. Damals kannte man weder die Gene (z. B. hox), die an dieser Steuerung beteiligt sind, noch die Wachstumsfaktoren (Zytokine), Signalkaskaden einschließlich der dazugehörigen Rezeptoren oder gar Hormone, die in die Steuerung der Entwicklungsabläufe involviert sind. Letzteres fällt selbst heute noch manchem schwer zu verstehen, der sich nicht mit diesen molekularen und biochemischen Vorgängen auskennt, wobei es auch da noch immer das eine oder andere Neue zu entdecken gibt. Allerdings kann man hier aber durchaus auch noch zugunsten dieser Forscher andeuten, dass sie wohl damals schon den Forschergeist und Antrieb hatten, die besonderen Rätsel zu entschlüsseln und diesbezüglich waren Schildkröten in der damaligen Zeit ein gewisses phylogenetisch-anatomisches Enigma. Wen wundert’s, selbst heute diskutieren Phylogenetiker zum Teil noch darüber, ob sie überhaupt zu den Reptilien gerechnet werden sollten oder gar einen eigenen Tierstamm darstellen. In diesem Sinne wie ich finde eine gelungene Arbeit zur retrospektiven Betrachtung des Erkenntnisgewinns in den Biowissenschaften, die uns durchaus auch etwas lehren kann, sofern man auch gewillt ist etwas aus der Geschichte lernen zu wollen. Worauf wir aber durchaus vertrauen können, unabhängig vom Zeitgeist und den persönlichen Einflüssen, die Geschichte wird uns immer zeigen, welche dieser Einsichten wohl die war, die der Realität am nächsten stand, selbst wenn das die Protagonisten ihrer Zeit noch gar nicht so einsehen konnten oder aus persönlichen Ressentiments einsehen wollten. Ja und wenn wir das mal auf unsere derzeitigen, aktuellen Debatten übertragen, dann zeichnen sich da für mich durchaus Parallelen zu den heutigen Fragestellungen ab, die ich einmal ganz allgemein als jene, die sie bei WiF-online unter dem Thema Hybridisierung gelistet finden, denn auch heute machen auch Schildkröten wieder auf Enigmen im Verständnis Speziation (Artenbildung) und Biodiversitätserhaltung aufmerksam, die wir bei weitem in ihren vielfältigen Möglichkeiten noch nicht verstanden haben. Ja und auch da denke ich, sind bei vielen die Tellerränder der einzelnen Fachdisziplinen noch eher bewusst, so hochgekrämpelt damit der Nachwuchs noch nicht soweit in die offene weitaus vielfältigere Realität des Lebens schauen kann und man noch etwas länger in seinen indoktrinierten Lehrmeinungen verharren kann. Aber auch hier erkennen wir schon die ersten Ansätze, wie eine objektive wissenschaftliche Datenanalyse in neue Denkrichtungen weisen.

Literatur

Sulloway, F. J. (2009): Tantalizing tortoises and the Darwin-Galapagos Legend. – Journal of the History of Biology 42(1): 3-31 oder Abstract-Archiv.