Dinets, V. (2023): Play behavior in ectothermic vertebrates. – Neuroscience & Biobehavioral Reviews 155: 105428.
Spielverhalten bei wechselwarmen Wirbeltieren.
DOI: 10.1016/j.neubiorev.2023.105428 ➚
Bis vor wenigen Jahrzehnten dachte man, dass Spielen nur bei Vögeln und Säugetieren vorkommt. Obwohl Spielen bei anderen Wirbeltieren immer noch ein vernachlässigtes Forschungsgebiet ist, haben sich doch in den vergangenen Jahren langsam dazu Daten angesammelt, für die ich hier eine Übersicht liefere. Derzeit wissen wir, dass diverse Tiere wie Stachelrochen, Cichliden (Fische), Warane, Weichschildkröten und Krokodile unerwarteter Weise sehr verspielt sein können. Dieses Wissen hat Auswirkungen auf weitreichende theoretische Fragestellungen, aber es ist wesentlich mehr Forschungsarbeit und Beachtung dieses Themas notwendig, um dieses Potential nutzbar zu machen.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Mit Nutzbarmachung ist gemeint, dieses Spielverhalten bei der Haltung von Tieren einzusetzen und um daraus auch diagnostisch brauchbare Rückschlüsse zu ziehen sowie den Umgang mit Tieren grundsätzlich im Sinne des Tierwohls zu überdenken. Im Wesentlichen liefert diese Arbeit eine gute Übersicht über die bislang wissenschaftlich publizierten Erkenntnisse und verweist aber auch darauf, dass ein beträchtlicher Anteil solcher Beobachtungen auch in den nicht-wissenschaftlichen Journalen Erwähnung findet. Dabei geht es auch um die Frage, wie wir das Spielverhalten erkennen können? Bezieht man sich auf die Fakten, ist ja die Definition von Spielverhalten wesentlich und hier gelten immer noch die Definitionen von Burghardt (2005), wobei zu bedenken ist, dass nicht bei allen Tieren alle 5 Kriterien zutreffen müssen wie: 1. Die Handlungen bei diesem Verhalten sind nicht vollwertig funktional in Form und Kontext, indem sie zum Ausdruck kommen. Was bedeutet, dass Elemente oder gerichtete Handlungen in Bezug auf einen Stimulus auftreten, die in der akuten Situation nichts zur Überlebensfähigkeit beitragen. 2. Das Verhalten ist spontan, freiwillig, gewollt, Freude bereiten, belohnend und verstärkend oder nur einem Selbstzweck dienlich. 3. Es unterscheidet sich von einer echten Handlung oder es unterscheidet sich von atypischen Verhalten strukturell oder zeitlich in mindestens einem Aspekt: Es ist inkomplett (im Allgemeinen durch gehemmte oder fallengelassene Elemente), übertrieben, tollpatschig oder frühreif oder beinhaltet Verhaltensmuster mit modifizierten Formen, Sequenzen oder Zielen. 4. Das Verhalten wird wiederholt gezeigt und zwar in gleicher, aber nicht unbedingt stereotyper Weise während oder zumindest in einer Periode der ontogenetischen Entwicklung des Tieres. 5. Das Verhalten tritt auf, wenn das Tier adäquat gefüttert und versorgt und gesund ist, entspannt und frei von Stress ist (z. B. Beutegreiferbedrohung, raues Mikroklima, soziale Instabilität) oder intensiven Konkurrenzdruck (z.B. um Futter, um Paarungspartner oder Beutegreifervermeidung).
Hierbei wird eigentlich auch schon deutlich, wie schwierig es oft sein kann Spielverhalten als zwecklos zu bezeichnen, denn oft wird ja selbst bei Säugetieren wie jungen Füchsen oder Katzen Spielverhalten als Lernverhalten für die Jagd oder für spätere Konkurrenzkämpfe gedeutet. Allerdings stellen wir uns wie auch oft in der Wissenschaft diese Fragen zum Erkennen von Spielverhalten gar nicht, sondern wir deuten es einfach in Analogie zu unseren eigenen bzw. kindlichen Verhaltensweisen, die wir wie gesagt bei vielen niederen Tieren nicht erwarten würden. Aber letztendlich lässt sich Spielen auch bei Schildkröten beobachten, denn z. B. manche Waldbachschildkröten lieben es einfach immer wieder, gegen die Strömung zu wandern oder sich von einer Wasserfontäne kräftig berieseln oder treiben zu lassen.
Nun, warum interessiert man sich überhaupt für Spielverhalten, doch nicht nur deshalb, weil es uns Spaß macht es zu beobachten? Auch nicht nur dazu, Tieren in Gefangenschaftshaltung Abwechslung zu bieten. Nein, Spielverhalten kann uns etwas über die Evolution von Bewusstsein (oder Conciousness) aufzeigen und damit auch etwas über die kognitiven Leistungen erklären. Da Spielen nicht zweckgebunden erfolgt wird es von Lebewesen wohl hauptsächlich aus, nennen wir es einmal „Freude oder um sich wohlzufühlen“ ausgeübt. Um sich aber individuelles Wohlbefinden zu beschaffen ist es notwendig, dass man sich als selbst wahrnehmen kann, denn man muss sich selbst dieses Wohlbefinden durch eine eigenständige nicht zweckgebundene Spielhandlung selbst beschaffen wollen. Dazu ist aber dann zum einen Kognitionsfähigkeit notwendig und es ist notwendig zu fühlen, sprich sich dabei wohl zu fühlen also den Wohlfühleffekt auf sich selbst beziehen zu können, den man sich durch eine eigene nicht überlebensnotwendige Handlung verschaffen kann. Insofern lernen wir daraus auch das Lebewesen fühlen können, etwas, das auch schon von Lambert et al. (2019) ausgeführt wurde (siehe auch den dortigen Kommentar). Letzteres ist ja gerade etlichen niederen Lebewesen früher abgesprochen worden und auch heute tun wir uns schwer damit, denn wir beruhigen damit vielleicht auch unser schlechtes Gewissen den Tieren gegenüber, die zu unserer eigenen Ernährung auf nicht immer artgerechte Weise nutzen. Siehe dazu auch die Kommentare zu Krochmal et al., (2021) und Szabo et al., (2020).
Literatur
Burghardt, G.M. (2005): The Genesis of Animal Play: Testing the Limits. – MIT Press; DOI: 10.7551/mitpress/3229.001.0001 ➚.
Burghardt, G.M. (2015): Play in fishes, frogs and reptiles. – Current Biology 25(1): R9-R10; DOI: 10.1016/j.cub.2014.10.027 ➚.
Krochmal, A. R., T. C. Roth & N. T. Simmons (2021): My way is the highway: the role of plasticity in learning complex migration routes. – Animal Behaviour 174(2): 161-167 oder Abstract-Archiv.
Lambert, H., G. Carder & N. D'Cruze (2019): Given the Cold Shoulder: A Review of the Scientific Literature for Evidence of Reptile Sentience. – Animals (Basel) 9(10): E821 oder Abstract-Archiv.
Mo, M. (2020): Only in captivity? An interaction between two threatened chelonians, an Asian Giant Tortoise (Manouria emys) and a Malaysian Giant Turtle (Orlitia borneensis). – Reptiles & Amphibians 27(1): 89-90; DOI: 10.17161/randa.v27i1.14470 ➚.
Szabo, B., D. W. A. Noble & M. J. Whiting (2020): Learning in non-avian reptiles 40 years on: advances and promising new directions. – Biological reviews of the Cambridge Philosophical Society 96(2): 331-356 oder Abstract-Archiv.
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Glyptemys insculpta – Waldbachschildkröte