Rivera - 2008 - 01

Rivera, G. & J. Claude (2008): Environmental media and shape asymmetry: a case study on turtle shells. – Biological Journal of the Linnean Society 94(3): 483-489.

Umwelt-„Medien“ und Formasymmetrie: Eine Fallstudie für Schildkrötenpanzer.

DOI: 10.1111/j.1095-8312.2008.01008.x ➚

Obwohl physikalische Eigenschaften der Umwelt bekannt dafür sind, dass sie die Form beeinflussen, gibt es bis heute kaum Untersuchungen zu den Auswirkungen von Umweltbedingungen auf die Asymmetrie. Diese Studie untersucht die Beziehung zwischen Asymmetrie und flüssigem Medium (also Luft im Vergleich zu Wasser), welches ein Organismus bewohnt und welches eine Selektionskraft darstellen kann, um eine neue Hypothese zu testen, nach der die resultierende Asymmetrie dazu beitragen kann, die biomechanischen Funktionen zu verbessern. Wir untersuchten dazu die Carapaxasymmetrie bei 114 Spezies (69 aquatische und 45 terrestrische) aus der Überordnung Testudinoidea. Die erhobenen Ergebnisse deuten an, dass es eine Korrelation zwischen Umwelt und dem Grad der Asymmetrie gibt, aber in unterschiedliche Richtungen bei den beiden Kladen, aus denen sich die Testudinoidea zusammensetzen. Innerhalb der Testuguria, zeigen aquatische Schildkröten ein niedrigeres Ausmaß an Asymmetrie im Vergleich zu an Land lebenden Schildkröten, was in Einklang mit unserer vorgeschlagenen biomechanischen Hypothese ist. Dieses Muster der Asymmetrie konnte aber nicht innerhalb der Emydidae nachgewiesen werden, möglicherweise dadurch bedingt, dass die Zeitspanne seit der Abspaltung terrestrischer Taxa innerhalb dieser Klade kürzer ist. Trotzdem liefert diese Studie erstmals Beweise für eine Beziehung zwischen flüssigem Medium und Asymmetrie für eine taxonomische Gruppe.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Die Aussage und der Nachweis einer Beziehung zwischen Asymmetrie und Umwelt ist schon für sich bemerkenswert, obwohl wir auch so längst wissen, dass es Formanpassungen an die Umwelt gibt, die auch gewisse Selektionsvorteile darstellen. Warum macht man dann solche globalen Analysen? Ein Grund dafür ist, dass es bei bilateralsymmetrischen Tieren in der Regel einen innerartlichen Selektionsdruck hin zu möglichst perfekter Symmetrie gibt. Somit zeigen bilateralsymmetrische Tiere, die unter optimalen Bedingungen, z. B. im Zentrum ihrer ökologischen Nische leben, mit der Zeit eine Zunahme bei der Symmetrie da die innerartliche Selektion daraufhin selektioniert. Im Gegensatz dazu würde eine Zunahme bei der Asymmetrie in einer Population andeuten, dass zunehmend Stressfaktoren auf die Population einwirken. Überlagert wird diese innerartliche Selektion zur Symmetrie durch die Umweltbedingungen, die biologische und physikalische (also abiotische) Faktoren beinhalten. Hier hat man also versucht, mal grundlegend für Schildkröten zu analysieren, ob die abiotischen Faktoren Luft oder Wasser einen Einfluss auf das Ausmaß der Asymmetrie haben, da Wasser 800 mal dichter als Luft ist, wie die Autoren selbst ausführen. Ich denke, dass die Idee, so etwas zu untersuchen, durchaus gut ist, aber dass diese Studie zur Klärung der Hypothesen zu allgemein gefasst ist. Denn hier werden ganze Ordnungen und Familien miteinander verglichen, ich denke, wenn man wirklich das Ausmaß an Asymmetrie als Stressindikator analysieren möchte, müsste man bestenfalls terrestrische und nahe verwandte aquatische Arten miteinander vergleichen oder gar Populationen ein und der selben Spezies, die zum Beispiel als semiaquatische Schildkröten einen mehr aquatischen oder einen mehr terrestrisch geprägten Lebensraum besiedeln. Die hier vorgestellten Interpretationen der gegenläufigen Befunde für die beiden untersuchten Kladen bleibt schwierig, zumal auch die kleine Anzahl von nur drei terrestrisch lebenden Spezies innerhalb der Emydidae eine saubere statistische Absicherung erschwert. Dennoch, die grundlegende in der Einleitung erörterte Aussage, dass Umweltstress sich auf die Symmetrie auswirken kann, ist ein sehr interessanter Ansatz und sollte meines Erachtens aber auf nahe verwandte Arten oder unterschiedlich ökologisch eingenischte Populationen einer Art beschränkt bleiben, als dass man versucht, eine solche Fragestellung und Hypothesenüberprüfung auf ganze weit verzweigte phylogenetische Gruppen zu übertragen. Denn dadurch ist die eigentliche Aussage nur noch schwer zu überprüfen, weil ja die einzelnen Arten einer phylogenetischen Klade schon unterschiedliche ökologische Nischen bewohnen. Schließlich gibt es zwischen Luft und Wasser zwar diesen 800-fachen Unterschied in der Dichte, aber dennoch haben z. B. aquatische Spezies, die einen ruhigen, schlammigen Tümpel besiedeln, andere Bedingungen zu meistern, als jene, die Fließgewässer bewohnen und die meisten der aquatischen Arten leben eigentlich semiaquatisch, wobei es eine deutliche Bandbreite in Bezug auf die Nutzung terrestrischer Habitate geben kann (siehe z. B. Bowne (2008)). Insofern ist es schon erstaunlich, dass die Autoren zumindest für die Testuguria ihre Hypothese bestätigen konnten, wobei das biomechanisch zu erwartende Ergebnis auch klar ist: Da Wasser dichter ist, fördert es die Selektion der Symmetrie, d. h. das Ausmaß an Asymmetrie war im Medium Wasser am geringsten, da das dünne Medium Luft eben mehr Spielraum zur Asymmetrie zulässt: Sie können leicht bei einer Geschwindigkeit von 80 km/h die Hand aus dem Autofenster halten, wenn sie das bei gleicher Geschwindigkeit unter Wasser tun würden, wäre sie abgerissen und das Boot würde unweigerlich vom Kurs abkommen.
Machen wir es einmal praktisch und für jeden klar nachvollziehbar und untersuchen wir einmal nicht den Unterschied von Luft und Wasser, sondern Temperaturunterschiede: Wenn bei ihren Zuchtbedingungen zum Beispiel durch Hitzestress verursacht (sie inkubieren im oberen tolerierbaren Temperaturbereich, um bei Arten mit TSD-Typ I möglichst viele Weibchen zu erbrüten) bei der Inkubation die Anzahl von Schildanomalien zunimmt und wenn sie ihre Nachzuchten nicht abgeben, sondern behalten und in ihre Gruppe („Privatpopulation“) integrieren, steigt in der von ihnen gehaltenen Population (Zuchtgruppe), das Maß an Asymmetrie, weil Schildanomalien in der Regel nicht in gleicher Form, Anordnung und Häufigkeit auf beiden Körperhälften auftreten. Das heißt, ihre Population oder Zuchtgruppe ist unter den Einfluss eines umweltbedingten, abiotischen Stressfaktors (zu hohe Inkubationstemperatur) geraten. (Ganz einfach ausgedrückt: Sie haben im privaten ein Experiment durchgeführt, das der oben von den Autoren formulierten einleitenden Fragestellung gerecht wird und in gewisser Weise die Fragestellung beantwortet und die vorgegebene Hypothese bestätigt, wenn auch unter artifiziellen oder Laborbedingungen). Im natürlichen Lebensraum kann das genauso vorkommen, ausgelöst durch globale Erwärmung oder durch eine Versteppung der Landschaft und eine Abnahme beschatteter Nistplätze (siehe z. B. Diaz-Paniagua et al. (2006)). Ich denke, dieses Beispiel macht deutlich, dass man nicht unbedingt Wissenschaftler sein muss, um zu experimentieren und um „naturphilosophisch angehauchte Hypothesen“ zu bestätigen oder zu widerlegen, solange man sich Gedanken über das wirkliche Leben der Tiere macht. Denn solche Hypothesen nur an Hand von leblosen Schildkrötenpanzersammlungen bzw. Knochensammlungen aus Museen zu überprüfen, zu deren eigentlichen Lebensweise man nur unzureichende Detailinformationen hat, überfordert manchmal auch den wissenschaftlichen Ansatz.

Literatur

Bowne, D. R. (2008): Terrestrial activity of Chrysemys picta in northern Virginia. – Copeia 2008(2): 306-310 oder Abstract-Archiv.

Diaz-Paniagua, C., A. C. Andreu & C. Keller (2006): Effects of temperature on hatching success in field incubating nests of spur-thighed tortoises, Testudo graeca. – Herpetological Journal 16(3): 249-257 oder Abstract-Archiv.