Grüne Meeresschildkröte, Chelonia mydas, ein Albino-Schlüpfling – © Justin R. Perrault

Heithaus - 2007 - 01

Heithaus, M. R., A. Frid, A. J. Wirsing, L. M. Dill, J. W. Fourqurean, D. Burkholder, J. Thomson & L. Bejdero (2007): State-dependent risk-taking by green sea turtles mediates top-down effects of tiger shark intimidation in a marine ecosystem. – Journal of Animal Ecology 76(5): 837-844.

Eine zustandsabhängige Risikoabwägung bei der Suppenschildkröte mediiert die „top-down“ Auswirkungen der Bedrohung durch Tigerhaie in einem maritimen Ökosystem

DOI: 10.1111/j.1365-2656.2007.01260.x ➚

Grüne Meeresschildkröte, Chelonia mydas, – © Hans-Jürgen Bidmon
Grüne Meeresschildkröte,
Chelonia mydas,
© Hans-Jürgen Bidmon
  1. Systemübergreifende Vorhersagen in Bezug auf die Rahmenbedingungen, die die Dynamik innerhalb von Lebensgemeinschaften und ihren Ökosystemen bestimmen, sind bis heute kaum bekannt, zum Teil bedingt durch das Ignorieren der Bedrohungen durch Beutegreifer. Ferner ist bis heute unbekannt, welches Maß an individuellen (individuenabhängigen) Details in solchen auf die Lebensgemeinschaft bezogenen Vorhersagemodellen benötigt wird.
  2. Kürzlich durchgeführte Studien für kurzlebige Spezies lassen vermuten, dass stadienabhängige Entscheidungen wenig zu unserem Verständnis der Dynamiken in Lebensgemeinschaften beitragen. Körperkonditionsabhängige Entscheidungen von lang lebenden Herbivoren, die unter Bejagungsdruck stehen, könnten aber größere Auswirkungen auf dem Niveau der Lebensgemeinschaft haben. Allerdings wurden solche Möglichkeiten bislang speziell in maritimen Systemen kaum untersucht.
  3. In der relativ reinen Seegras-Lebensgemeinschaft der Shark Bay, Australien, beobachteten wir, dass die herbivoren Suppenschildkröten (Chelonia mydas Linnaeus, 1758), die durch die Tigerhaie (Galeocerdo cuvier Peron & LeSueur, 1822) bedroht werden, ihre Mikrohabitate in Abhängigkeit von ihrer Körperkondition auswählen. Suppenschildkröten, die eine schlechte Körperkondition haben, selektieren profitable (nährstoffreiche) Hoch-Risiko-Mikrohabitate (Hohe Gefährdung durch Haie), während Schildkröten mit guter Körperkondition die häufigeren sichereren aber nährstoffärmeren Mikrohabitate bevorzugen. Allerdings, wenn das Bejagungsrisiko niedrig war (z. B. durch Ausgrenzung der Haie) wanderten auch jene Schildkröten mit guter Körperkondition in die nährstoffreicheren Mikrohabitate.
  4. Diese konditionsabhängige Wahl des Lebensraums von Schildkröten zeigt, dass Tigerhaie das raum-zeitliche Muster der Habitatnutzung der weidenden Schildkröten beeinflussen. Ebenso hat dies Einfluss auf die Dynamiken innerhalb des Ökosystems (Verhaltens-mediierte indirekte Interaktionsmuster). Daraus lässt sich folgern, dass zustandsabhängige Entscheidungen von Einzelindividuen unter bestimmten Umständen einen bedeutenden Einfluss auf die Dynamiken innerhalb von Lebensgemeinschaften haben.
  5. Unsere Studie lässt vermuten, dass der Rückgang großer Exemplare von Haien größere Auswirkungen auf die Ökosysteme haben wird, als man meinen könnte, wenn man die nicht- (direkt) letalen Auswirkungen dieser Top-Prädatoren auf die mittelgroßen Konsumenten außer acht lässt.

 

Kommentar von H.-J. Bidmon

Salopp gesagt trifft auch hier mein Spruch: Es ist immer so, wie im wahren Leben! Ein schönes Beispiel dafür, wie sich verschiedene Arten innerhalb eines Ökosystems beeinflussen. Ebenso zeigt uns diese Arbeit welche Abwägungen Lebewesen, hier Suppenschildkröten, treffen müssen, um möglichst erfolgreich in einem bestimmten Biotop zu überleben. Dennoch zeigt die Arbeit, dass die Schildkröten die nährstoffreichen Mikrohabitate bevorzugen und bei fehlendem Bejagungsdruck nutzen, ja, wenn sie geschwächt sind, sogar essentiell brauchen. Deshalb sollte man sich schon fragen, warum in manchen Biotopen Schildkröten nicht immer die ergiebigsten Habitate besiedeln? Wie das natürliche Verhalten aber hier zeigt, wäre es völlig falsch, daraus den Schluss zu ziehen, dass keine nährstoffreiche Nahrung benötigt wird. In anderen Biotopen müssen die Tiere eventuell andere Kompromisse eingehen, um ihr Überleben zu sichern (siehe auch: Stevenson et al. (2007). Auch hier könnten die ergiebigsten, fruchtreichsten Habitate jene sein, in denen der Jaguar bevorzugt auf Jagd geht). Unter gewissen Umständen können es sogar großflächige Umweltveränderungen sein, die Tiere zu gewissen Anpassungen, Kompromissen oder Veränderungen zwingen. Die Frage ist, ob wir diese Veränderungen noch als solche erkennen, insbesondere dann wenn sie sich in der Vergangenheit ereigneten? Z. B. gibt es Berichte, dass Waldbestände in bestimmten Lebensräumen schon vor Hunderten von Jahren verschwunden sind z. B. auf Sri Lanka. Deshalb frage ich mich auch, ob es wirklich dem natürlichen „Urzustand“ entspricht, dass Sternschildkröten dort höckeriger sein sollen als andernorts, wenn man Jungtiere aber feucht genug aufzieht, auch glatte Tiere heranwachsen. Liegt es also in der Natur von Sternschildkröten höckerig heranzuwachsen oder liegt es nur daran, dass der vor 800 Jahren gerodete Urwald das Klima in den meisten Mikrohabitaten so veränderte, dass eben heute noch die Mehrzahl der wild lebenden Exemplare höckeriger aufwachsen, weil 800 Jahre eben immer noch zu kurz sind, um die gesamte Physiologie langlebiger Reptilien den Veränderungen optimal anzupassen? Wenn Letzteres der Fall sein sollte, würde zwar die Aussage, dass auch in der Natur höckerige Sternschildkröten vorkommen immer noch zutreffend sein, aber man sollte sich als Ökologe fragen, auf welchen angeblich „natürlichen“ Lebensraum man diese Aussage beziehen möchte.

Literatur

Stevenson, P. R., C. A. Borda, A. M. Rojas & M. Alvarez (2007): Population size, habitat choice and sexual dimorphism of the Amazonian tortoise (Geochelone denticulata) in Tinigua National Park, Colombia. – Amphibia-Reptilia 28(2): 217-226 oder Abstract-Archiv.

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