Chinesische Dreikielschildkröte, Mauremys reevesii, Einjähriges Jungtier im Aquaterrarium – © Hans-Jürgen Bidmon

Ye - 2019 - 01

Ye, Y. Z., L. Ma, B. J. Sun, T. Li, Y. Wang, R. Shine & W. G. Du (2019): The Embryos of Turtles Can Influence Their Own Sexual Destinies. – Current Biology 29(16): 2597-2603.

Die Embryonen von Schildkröten können ihr eigenes sexuelles Schicksal beeinflussen.

DOI: 10.1016/j.cub.2019.06.038 ➚

Chinesische Dreikielschildkröte, Mauremys reevesii, – © Hans-Jürgen Bidmon
Chinesische Dreikielschildkröte,
Mauremys reevesii,
einjähriges Jungtier im Aquaterrarium
© Hans-Jürgen Bidmon

Sessile Organismen mit Temperatur-abhängigen Entwicklungsverläufen laufen Gefahr dem Klimawandel zum Opfer zu fallen. Zum Beispiel ovipare Reptilien mit Temperatur-abhängiger Geschlechtsausprägung (TSD) könnten gravierende bis potentiell desaströse Verschiebungen bei der Geschlechterverteilung ihrer Nachkommen erfahren, wenn es den sich reproduzierenden Weibchen nicht gelingt schon bei der Nistplatzwahl die Inkubationsbedingungen vorher entsprechend gut einzuschätzen. Aber dann stellt sich die Frage wie sich Reptilienarten mit TSD solange erhalten konnten, da es in früheren erdgeschichtlichen Perioden Phasen mit extremeren klimatischen Veränderungen gab? Die Fähigkeit der Embryonen sich im Ei zu bewegen, um eine optimale Entwicklungstemperatur zu wählen, könnte helfen Temperaturextreme abzumildern. Allerdings die Nutzbarkeit einer durch Embryonen realisierten verhaltensabhängigen Thermoregulation wird kontrovers diskutiert und angezweifelt. Um diese Idee zu testen bestimmten wir die Temperaturgradienten in den Eiern die in semi-natürlichen Nestern inkubierten bei einer Süßwasserschildkrötenart mit TSD. Wir manipulierten dabei die thermoregulatorischen Fähigkeiten und wir modulierten die Auswirkungen einer durch den Embryo gesteuerten Thermoregulation auf das Geschlechterverhältnis. Die verhaltensgesteuerte Thermoregulation von Embryonen beschleunigte deren Entwicklung und beeinflusste das Geschlechterverhältnis der Schlüpflinge wodurch die Temperaturspannweite (Umweltkonditionen) unter der aus Nestern Schlüpflinge mit ausgeglichenen Geschlechterverhältnis von Weibchen und Männchen schlüpfen ausgeweitet wurde. Modell- basierte Projektionen lassen den Schluss zu, dass Verschiebungen beim Geschlechterverhältnis die durch den globalen Klimawandel induziert würden durch die Fähigkeit der Embryonen durch verhaltensbedingte Thermoregulation Einfluss auf ihr sexuelles Schicksal zu nehmen abgemildert werden.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Hier handelt es sich um eine interessante Untersuchung, die zumindest für die Chinesische Dreikielschildkröte (Mauremys reevisii) belegt, dass die Eier innerhalb des Nests nicht nur je nach Lage im Gelege, sondern auch von einem Eipol zum anderen einen Temperaturgradienten aufweisen der bis zu maximal 4,7 °C ausmachen kann. Zudem zeigen die Autoren auch wie die Inkubationstemperaturen und die sich daraus ergebenden Gradienten in den Eiern im Tagesverlauf schwanken. Letzteres liefert einen schönen Einblick in ein detailliertes Inkubationsprotokoll das neben den Angaben für die aktuelle durchschnittliche Inkubationstemperatur von 27,1 °C auch die Abweichung von der Pivotaltemperatur von 27,9 °C ausweist. Insofern liefern die Autoren hier nicht nur Belege zur Unterstützung einer früher schon aufgestellten Hypothese (Du et al., 2011) sondern sie liefern durch ihre pharmakologische Manipulation der Embryonen im Ei mit Capsazepin einem Inhibitor für temperatursensitive Kanäle (Rezeptoren) auf Zellen den Beleg dafür, dass in den Nestern und Eiern mit einem entsprechenden Temperaturgradienten Capsazepin die Bewegung der Embryonen hemmt während die gleiche Behandlung in Eiern in Gelegen und Eiern unter konstanten Inkubationsbedingungen keine Auswirkungen hat weil keine Notwendigkeit für eine Embryoverlagerung im Ei besteht. Letzteres zeigt eigentlich auch wieder ein schönes Beispiel für Verhaltensplastizität (siehe Roth & Krochmal, 2018; Scott et al., 2018; Wilkinson & Huber, 2012 und die dortigen Kommentare) welches zum einen zeigt wie früh in der Entwicklung diese Prozesse schon greifen und zum zweiten hervorhebt auf welch vielfältige Weise Lebewesen auf Umweltveränderungen reagieren können und wie komplex im einzelenen diese Vorgänge sein können (siehe auch Kommentare zu Van Houtan et al., 2015; , Butler et al., 2016). Sicher ist damit noch nicht klar belegt, dass dies auch für andere Spezies zutrifft und ebenso bleibt unklar ob diese Mechanismen ausreichen um das Überleben unter sich verändernden Umweltbedingungen komplett zu sichern, aber es zeigt zumindest eine Möglichkeit dazu auf. Immerhin sind Temperaturgradienten von bis zu 4,7 °C groß genug um für die bislang prognostizierten Klimaverschiebungen kompensieren zu können. Wenn es also zumindest für an Wasser gebundene Arten die Möglichkeit gibt einer mit dem Temperaturanstieg drohenden Aridifizierung (Austrocknung) des Lebensraums auszuweichen (siehe dazu auch Kommentar zu Javanbakht et al., 2017) zeigt diese Arbeit, dass die Tiere ihrerseits die Fähigkeit mitbringen trotz dieses Temperaturanstiegs ihr Geschlechterverhältnis einigermaßen ausgeglichen zu halten. Letzteres dürfte zumindest ein starkes erklärendes Argument dafür sein wie solche TSD-Spezies frühere Klimaveränderungen bzw. Verschiebungen erfolgreich bis heute überdauern konnten.

Literatur

Butler, C. J., B. D. Stanila, J. B. Iverson, P. A. Stone & M. Bryson (2016): Projected changes in climatic suitability for Kinosternon turtles by 2050 and 2070. – Ecology and Evolution 6(21): 7690-7705 oder Abstract-Archiv.

Du, W.-G., B. Zhao, Y. Chen & R. Shine (2011): Behavioral thermoregulation by turtle embryos. – Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 108(23): 9513-9515 oder Abstract-Archiv.

Javanbakht, H., F. Ihlow, D. Jablonski, P. Široký, U. Fritz, D. Roedder, M. Sharifi & P. Mikulicek (2017): Genetic diversity and Quaternary range dynamics in Iranian and Transcaucasian tortoises. – Biological Journal of the Linnean Society 121(3): 627-640 oder Abstract-Archiv.

Roth, T. C. II & A. R. Krochmal (2018): Of molecules, memories and migration: M1 acetylcholine receptors facilitate spatial memory formation and recall during migratory navigation. – Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 285(1891) oder Abstract-Archiv.

Scott, P. A., T. C. Glenn & L. J. Rissler (2018): Formation of a recent hybrid zone offers insight to the geographic puzzle and maintenance of species boundaries in musk turtles. – Molecular Ecology 28(4): 761-771 oder Abstract-Archiv.

Van Houtan, K. S., J. M. Halley & W. Marks (2015): Terrestrial basking sea turtles are responding to spatio-temporal sea surface temperature patterns. – Biology Letters 11(1): 20140744 oder Abstract-Archiv.

Wilkinson, A. & L. Huber (2012): Cold-Blooded Cognition: Reptilian Cognitive Abilities. – S. 129-143 in: Vonk, J. & T. K. Shackelford (Hrsg.): The Oxford Handbook of Comparative Evolutionary Psychology. – Oxford University Press 129-143 oder Abstract-Archiv.

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