Europäische Sumpfschildkröte, Emys orbicularis, – © Hans-Jürgen Bidmon

Gaczorek - 2024 - 01

Gaczorek, T., K. Dudek, U. Fritz, L. Bahri-Sfar, S. J. E. Baird, F. Bonhomme, C. Dufresnes, V. Gvoždík, D. Irwin, P. Kotlík, S. Marková, P. McGinnity, M. Migalska, J. Moravec, L. Natola, M. Pabijan, K. P. Phillips, Y. Schöneberg, A. Souissi, J. Radwan & W. Babik (2024): Widespread adaptive introgression of MHC genes across vertebrate hybrid zones. – Molecular Biology and Evolution 2024: msae201.

Weitverbreitete adaptive Introgression von MHC-Genen in Wirbeltierhybridzonen.

DOI: 10.1093/molbev/msae201 ➚

Europäische Sumpfschildkröte, Emys orbicularis, – © Hans-Jürgen-Bidmon
Europäische Sumpfschildkröte,
Emys orbicularis,
© Hans-Jürgen-Bidmon

Die interspezifische Introgression ist eine potenziell wichtige Quelle für neuartige Variationen von adaptiver Bedeutung. Obwohl zahlreiche Fälle von adaptiver Introgression gut dokumentiert sind, fehlt es an umfassenderen Verallgemeinerungen über ihre Ziele und Mechanismen. Ein evolutionärer Mechanismus, der adaptive Introgression begünstigt, ist die ausgleichende Selektion durch mehrere Allele, insbesondere, wenn sie durch den Vorteil seltener Allele erfolgt. Dies liegt daran, dass introgressierte Allele wahrscheinlich einen unmittelbaren Selektionsvorteil bieten, der ihre Etablierung in der Empfängerart selbst angesichts starker genomischer Barrieren in Bezug auf die Introgression erleichtert. Die Gene des Major-Histokompatibilitätskomplexes (MHC) der Wirbeltiere sind bekannt dafür, dass sie zu einer langfristigen, ausgleichenden Selektion mit mehreren Allelen beitragen, so dass eine weit verbreitete adaptive MHC-Introgression zu erwarten ist. Wir überprüfen diese Hypothese anhand von Daten aus 29 Hybridzonen, die von Fischen, Amphibien, Squamaten, Schildkröten, Vögeln und Säugetieren in fortgeschrittenen Stadien der Artbildung gebildet wurden. Die zentrale Vorhersage einer umfangreicheren MHC-Introgression im Vergleich zur genomweiten Introgression wurde mit drei sich ergänzenden statistischen Ansätzen getestet. Wir fanden Belege für eine weit verbreitete adaptive Introgression von MHC-Genen, die eine Verbindung zwischen dem Prozess der adaptiven Introgression und einem diesen zugrundeliegenden Mechanismus herstellt. Unsere Arbeit zeigt, dass die MHC-Introgression ein allgemeiner Mechanismus ist, durch den Arten neue Variationen erwerben und möglicherweise zuvor verloren gegangene Variationen wiedergewinnen können, die die Abwehr von Krankheitserregern verbessern und das Anpassungspotenzial erhöhen können.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Hier handelt es sich um eine ausgezeichnete Arbeit die erstmals nicht nur für viele andere Spezies, sondern auch für Schildkröten zeigt welchen Einfluss MHCs auch bei Schildkröten in Bezug auf deren adaptive Immunität gegenüber Krankheitserregern haben. Dies spielt insbesondere bei der Besiedlung neuer Lebensräume in die eine dort bislang nicht heimische Art einwandern kann oder gar auf eine dort heimische Spezies treffen kann (siehe z. B. Hamilton & Miller, 2015; Bidmon, 2017; Sagonas et al., 2019). Hier kann Introgression (Hybridisierung) dazu beitragen Gene vererbt zu bekommen, die der dort einwanderten Spezies es ermöglichen sehr viel schneller Antikörper zu bilden, die sie vor den für sie noch fremden oder neuen Krankheitserregern schützen, gegen die die dort einheimische Art längst resistent geworden ist. Ebenso wie im Gegenzug die einwandernde Spezies der heimischen Art Gene vererben kann, die sie gegen die von ihr miteingebrachten, für die heimische Art fremden Krankheitserregern, schützen kann. Ja, und allein schon durch die Vergrößerung des genetischen Potentials (Genetische Diverisität) können sich sehr viele Vorteile für eine schnellere genetische Anpassung an neue Umweltbedingungen oder sich verändernde Umweltbedingungen ergeben. Gleiches trifft auch in Bezug auf verschiedene Populationen ein und derselben Spezies oder Unterarten zu (Elbers et al., 2017, Loire et al., 2013; Yuan et al., 2019 und die dortigen Kommentare). In Bezug auf die Schildkröten wurden hier Vertreter aus der Gattung Emys untersucht. Wie eine jüngste Studie an Vögeln auch nahelegt haben sie ihre MHC-Komplex-Gene auch von den noch gemeinsamen Vorfahren von Reptilien und hier besonders erwähnt, Schildkröten ursprünglich vererbt bekommen. Denn der MHC- Klasse II Komplex der Schildkröten findet sich auch beim Kiwi. Eine Geschichte die wohl vor mehr als 250 Millionenjahren ihren Anfang nahm (Minias & Babik, 2024). Sollte uns dies allein nicht schon, dass meist etwas vernachlässigte Adaptive-Immunsystem der Reptilien und Schildkröten etwas näher bringen? Da aber MHC Komplexe bei einigen Spezies auch daran beteiligt sind Inzucht zu vermeiden, was zwar für Schildkröten noch längst nicht bekannt ist, aber man kann dennoch annehmen, dass dies auch bei ihnen vorkommen kann. Was letztendlich eine Erklärung dafür liefern könnte warum sich zum Beispiel Weibchen bevorzugt mit fremden bzw. eingewanderten Männchen paaren (z. B. Loire et al., 2013). Es bleibt auf diesem Gebiet noch viel zu erforschen und inwieweit Hybridisierung letztendlich sowohl heimischen wie fremden Arten dabei hilft sich gegenüber den nun einmal miteingeschleppten Krankheitserregern zu behaupten bleibt spannend. Denn eines sollte man nicht vergessen; selbst wenn man eine fremde invasive, introgressive Spezies wieder ausmerzen kann, bleiben ihre meist mit eingeschleppten Krankheitserreger vor Ort und können die dort einheimischen Arten weiter bedrohen. Letzteres ist ja ein Szenario, dass wir nur allzu gut aus unserer eigenen Geschichte kennen, denn die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus brachte den dort Einheimischen nicht nur die westeuropäischen Krankheitserreger mit, sondern sie nahmen auch welche aus der neuen Welt mit nach Europa. Für uns Menschen spielen zwar auch heute noch Krankheitserregerintrogessionen (z. B. COVID, Marburg-Virus etc.) eine Rolle, aber wir verbreiten sie meist selbst durch die weltweiten Reise- und Handelsaktivitäten. Ja, und auch unsere eigenen historischen anthropogenen Evolutionslinien-Introgressionsereignisse schützen und ermöglichen es uns auch heute noch uns schneller an neue Erreger anzupassen und Resistenzen aufzubauen, denn so Manche und Mancher haben so manche Krankheitserregerintrogression auch ohne Impfung in der Vergangenheit schon überlebt. Genetische Diversität hat nun mal Vorteile, auch dann, wenn manche sie nur unter dem Begriff einer nationalistischen Ausländer-Raus-Perspektive sehen wollen. Wenn man schon Wissenschaft betreibt und fördert sollte man auch versuchen dabei zu lernen.

Literatur

Bidmon, H.-J. (2017): Sind phylogenetische Stammbäume nur ein Traum? – Schildkröten im Fokus 14(1): 14-27 ➚.

Elbers, J. P., R. W. Clostio & S. S. Taylor (2017): Neutral genetic processes influence MHC evolution in threatened gopher tortoises (Gopherus polyphemus). – Journal of Heredity 108(5): 515-523 oder Abstract-Archiv.

Hamilton, J. A. & J. M. Miller (2015): Adaptive introgression as a resource for management and genetic conservation in a changing climate. – Conservation Biology 30(1): 33-41 oder Abstract-Archiv.

Loire, E., Y. Chiari, A. Bernard, V. Cahais, J. Romiguier, B. Nabholz, J. M. Lourenço & N. Galtier (2013): Population genomics of the endangered giant Galapagos tortoise. – Genome Biology 14(12): R136 oder Abstract-Archiv.

Minias, P. & W. Babik (2024): Palaeognaths reveal evolutionary ancestry of the avian Major Histocompatibility Complex class II. – Genome Biology and Evolution 2024: evae211; DOI: 10.1093/gbe/evae211 ➚.

Sagonas, K., A. Runemark, A. Antoniou, P. Lymberakis, P. Pafilis, E. D. Valakos, N. Poulakakis & B. Hansson (2019): Selection, drift, and introgression shape MHC polymorphism in lizards. – Heredity (Edinb) 122(4): 468-484 oder Abstract-Archiv.

Yuan, M. L., K. N. White, B. B. Rothermel, K. R. Zamudio & T. D. Tuberville (2019): Close kin mating, but not inbred parents, reduces hatching rates and offspring quality in a threatened tortoise. – Journal of Evolutionary Biology 32(10): 1152-1162 oder Abstract-Archiv.

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