Unechte Karettschildkröte, Caretta caretta, – © Hans-Jürgen Bidmon

Cassill - 2022 - 01

Cassill, D.L. & A. Watkins (2022): Nest-site choice by loggerhead sea turtles as a risk-management adaptation to offset hatching failure by unpredictable storms and predators. – Frontiers in Ecology and Evolution 10: 850091.

Nistplatzauswahl bei Unechten Karettschildkröten als Anpassung des Risikomanagements zur Reduktion von Schlüpflingsverlusten durch nicht vorhersagbare Stürme und Beutegreifer.

DOI: 10.3389/fevo.2022.850091 ➚

Unechte Karettschildkröte, Caretta caretta, – © Hans-Jürgen Bidmon
Unechte Karettschildkröte,
Caretta caretta,
© Hans-Jürgen Bidmon

Einleitung
Entlang der Küste von Florida, USA überschneidet sich die Nistsaison der Unechten Karettschildkröten Caretta caretta mit der Saison in der Hurrikane auftreten. Nistende Schildkrötenweibchen betreiben keine Nachkommensfürsorge die über die Ablage des Geleges im Sand der Strände an Stellen die eine dem Überleben zuträgliche Temperatur, Substratfeuchte und entsprechenden Gasaustausch gewährleisten hinausgeht. Anschließend unterliegen die Gelege der Weibchen zahlreichen Unwägbarkeiten wie der Austrocknung, der Plünderung durch Beutegreifer, der Überflutung oder der Stranderosion.

Methoden
Hier verwendeten wir Daten von einer Studie die von 1996 bis 2004 reichte und die 94 markierte Unechte Karettschildkrötenweibchen einbezog, die an einer schmalen vorgelagerten Insel an der Golfküste von Südflorida, USA nisteten. Wir untersuchten die Hypothese, dass die Nistlokalitäten die die Unechten Karettschildkrötenweibchen wählten zufällig verteilt liegen, um vor den nichtvorhersehbaren Gefährdungen zu schützen.

Ergebnisse
Wir zeigen, dass die Nistplatzauswahl für 19,2 % der Schwankungen beim Schlupferfolg verantwortlich ist, wohingegen das Ablagejahr wie auch der Ablagemonat für 81,1 % der Schwankungen in Bezug auf den Schlupferfolg verantwortlich sind. Wir zeigen, dass die Stelle an der der Schlupf entlang der Küstenlängsachse, wie auch die Niststelle in Bezug auf die Strandbreite (Entfernung vom Wasser) erfolgt, wie auch der Abstand zwischen den Nestern keiner Zufallsverteilung oder Normalverteilung folgt. Im Gegenteil wir fanden, dass die Unechten Karettschildkrötenweibchen eine „Goldilocks“-Verteilung anstreben bei der ihre Nester weder zu dicht zueinander noch zu entfernt von einander angelegt werden. Zudem wählen die Weibchen Nistlokalitäten die sich mit jenen aus dem Vorjahr gewählten am geringsten überschneiden.

Diskussion
Wir vermuten, dass die Nistplatzauswahl bei dieser Population von nistenden Unechten Karettschildkrötenweibchen einer signifikanten, mütterlichen Risikomanagementadaptation folgt, die ein wohl überdachtes Erhaltungsmanagement erfordern, wenn wir weiterhin die Auswirkungen des Klimawandels für diese Nistpopulation von Unechten Karettschildkröten erträglich erhalten wollen.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Nun warum dieses Abstract wo doch die meisten Leser/innen bestenfalls einmal im Urlaub mit Meeresschildkröten in Kontakt kommen? Es gehört aber wieder zu einer Arbeit, die uns vor Augen führt welche kognitiven Fähigkeiten diese Weibchen zum Einsatz bringen um ihren Nachwuchs nach Möglichkeit zum Überleben zu verhelfen und das anscheinend nicht nur in Florida (Patino-Martinez et al.,2023). Denn durch diese Ablagestrategie reduzieren sie das Risko des Verlusts aller Nester unter Beibehaltung der für eine erfolgreiche Inkubation erforderlichen Umweltfaktoren, da die Goldilocks-Verteilung ja begrifflich auf die Auswahl der „Goldenen Mitte“ verweist. Wenn sie wirklich ihre Nistplätze von Jahr zu Jahr entlang des Strands so verlagern, dass sie sich mit den Ablageorten vom Vorjahr kaum überschneiden, dann müssen sie sich zumindest daran erinnern können wo sie im Vorjahr abgelegt hatten oder wie sich die Orientierungssignale die sie nutzen zu jenen des Vorjahrs unterscheiden. Ebenso müssen sie sich auch die Platzierung zwischen den einzelnen Nestern einer Nistsaison merken können, wenn sie die Nester einer Saison in bestimmter Entfernung zueinander platzieren wollen. Alles Eigenschaften, die wir vor noch 20 Jahren von keinem Reptil erwartet hätten, obwohl wir auch damals schon genug Beobachtungen hatten, wie präzise sich manche Spezies in Bezug zur Nistplatztreue diesbezüglich verhalten (Wobei vieles dabei sogar in Gefangenschaftshaltungen beobachtet werden konnte). Aber vieles wurde früher einfach mit dem Wort Instinkt oder Instinkthandlung abgetan (siehe Bidmon (2016) und heute ist ja unser Erkenntnisstand zumindest soweit, dass man Fürsorge für den Nachwuchs durchaus auch bei Reptilien erwarten dürfen, denn selbst die Grundlagen für Empathie sind ja schon bei Fischen nachzuweisen (siehe Akinrinade et al., 2023; DeAngelis & Hofmann, 2023; Gutnick et al., 2019). Wenn wir also lernen müssen, dass diese Weibchen eine Auswahl der „Goldenen Mitte“ treffen die sich nicht nur auf eine Nistsaison beschränkt, sondern sogar nach der „Goldenen Mitte“ über mehrere Jahre hinweg sucht, dann wäre wahrscheinlich so mancher der sein Geld am Kapitalmarkt anlegt froh, wenn er für sich diese Goldene Mitte zwischen Gewinn und Verlust guten Gewissens abschätzen könnte. Wir kennen wohl aus eigener Erfahrung wie oft so etwas trotz deutlich erhöhten menschlichen Abstraktionsvermögen nicht immer gutgegangen ist. Aber bei letzterem ging es ja nur ums Geld, während es bei diesen Schildkröten ja wirklich ums Überleben geht. Siehe dazu auch Burns et al., (2020); Leivesley et al., (2022) und die dortigen Kommentare.

Literatur

Akinrinade, I., K. Kareklas, M. C. Teles, T. K. Reis, M. Gliksberg, G. Petri, G. Levkowitz & R. F. Oliveira (2023): Evolutionarily conserved role of oxytocin in social fear contagion in zebrafish. – Science 379(6638): 1232-1237; DOI: 10.1126/science.abq5158 ➚.

Bidmon, H.-J. (2016): Kommentar zu: Renner, S. S. (2016): A Return to Linnaeus's Focus on Diagnosis, Not Description: The Use of DNA Characters in the Formal Naming of Species. – Systematic Biology 65(6): 1085-1095 oder Abstract-Archiv.

Burns, T. J., R. R. Thomson, R. A. McLaren, J. Rawlinson, E. McMillan, H. Davidson & M. Kennedy (2020): Buried treasure – marine turtles do not ‘disguise’ or ‘camouflage’ their nests but avoid them and create a decoy trail. – Royal Society Open Science 7(5): 200327 oder Abstract-Archiv.

DeAngelis, R. S. & H. A. Hofmann (2023): The spread of fear in an empathetic fish. An evolutionary ancient signaling pathway mediates emotional contagion. – Science 379(6638): 1186-1187; DOI: 10.1126/science.adh0769 ➚.

Gutnick, T., A. Weissenbacher & M. J. Kuba (2019): The underestimated giants: operant conditioning, visual discrimination and long-term memory in giant tortoises. – Animal Cognition 23: 159-167 oder Abstract-Archiv.

Leivesley, J. A., E. G. Nancekivell, R. J. Brooks, J.D. Litzgus & N. Rollinson (2022): Long-Term Resilience of Primary Sex Ratios in a Species with Temperature-Dependent Sex Determination after Decades of Climate Warming. – The American Naturalist 200(4): 532-543 oder Abstract-Archiv.

Liao, C.-P., J. Y. Hsu, S.-P. Huang, R. W. Clark, L. Jhan-Wie, H.-Y. Tseng & W.-S. Huang (2021): Sum of fears among intraguild predators drives the survival of green sea turtle (Chelonia mydas) eggs. – Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 288(1944): 20202631 oder Abstract-Archiv.

Patino-Martinez, J., L. D. Passos, R. Amador, A. Teixidor, S. Cardoso, A. Marco, F. Koenen, A. Dutra, C. Eizaguirre, E. G. Dierickx, M. Tiwari, T. Székely & R. Moreno (2023): Strategic nest site selection in one of the world's largest loggerhead turtle nesting colonies, on Maio Island, Cabo Verde. – Oryx 57(2): 152–159; DOI: 10.1017/S0030605321001496 ➚.

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