Chelonoidis phantasticus, Fernandina-Riesenschildkröte. Dies ist das einzige noch existierende Exemplar der Art, es wurde von einem Forscherteam des Galapagos-Nationalparks und der Galapagos Conservancy im Jahr 2019 gefunden. – © Lucas Bustamante, Galapagos National Park and Galapagos Conservancy

Bidmon - 2022 - 01

Bidmon, H.-J. (2022): Jahresrückblick 2022.

DOI: None ➚

Fernandina-Riesenschildkröte, Chelonoidis phantasticus, – © Lucas Bustamante, Galapagos Conservancy
Fernandina-Riesenschildkröte,
Chelonoidis phantasticus, das einzige lebende Exemplar
namens Fernanda
© Lucas Bustamante, Galapagos Conservancy

2022 Jahresrückblick
Hans-J. Bidmon

Nun aus politischer und wirtschaftlicher Sicht hat nach den vergangenen zwei Pandemiejahren 2022 erst etwas erleichtert, aber schon bald noch schlechter begonnen. Die Situation in der Ukraine und deren Folgen haben sicherlich auch bei den Schildkrötenliebhabern etliche Fragen aufgeworfen, zumindest was die oft mit dem Hobby verbunden Preise für Energie einherzugehen haben dürfte. Ja und selbst, wenn es bislang die wenigsten vordergründig ausgesprochen haben gab es doch einige Telefonate die zumindest indirekt den Schluss zu ließen, dass sich einige zumindest von der Haltung tropischer Schildkröten in naher Zukunft lieber verabschieden möchten oder vielleicht sogar müssen.
Nichtsdestotrotz möchte ich hier aber auch einmal die aus positiver Sicht interessanteren Ereignisse aus dem zu Ende gehenden Jahr noch einmal revuepassieren lassen. Sicher war es eines der „schildkrötologischen“ Highlights, dass Jensen et al. (2022) bestätigen konnten, dass es sich bei der 2019 auf der Galapagosinsel Fernandina endeckten weiblichen Riesenschildkröte namens Feranda tatsächlich um die schon ausgestorben geglaubte Chelonoidis phantasticus handelt, so dass man die Wiederentdeckung dieser Spezies feiern durfte. Dabei stimmt es auch etwas hoffnungsvoll, dass man zumindest Spuren entdecken konnte die vielleicht auf das Vorhandensein weiterer Exemplare schließen lassen. Wir werden sehen ob sich letzteres vielleicht auch zukünftig bestätigen lässt.
Der zweite hervorzuhebende Aspekt bezieht sich auf die neuen Erkenntnisse zur Umweltgesteuerten-Geschlechtsausprägung. Schon während der letzten 10 Jahre rückte dieses Thema publikationsmäßig zunehmend in den Vordergrund, wohl auch in Anbetracht der durch den Klimawandel prognostizierten Szenarien der Verweiblichung vieler Schildkrötenarten mit temperaturabhängiger Geschlechtsfestlegung. Aber 2022 gab es dann sicherlich einige wissenschaftliche Durchbrüche die den Erkenntnisgewinn zum Thema beflügelt haben und auch zukünftig beschleunigen werden. Da gab es zum einen als Pendant zu der von Ge et al., (2018) beschriebenen Mastergenregulation zur Entwicklung von Männchen, nämlich die Beschreibung des Mastergens Foxl2 welches für die Entwicklung hin zu Weibchen essentiell ist (Ma et al., 2022). Nicht unerwähnt dazu sollte auch bleiben, dass es ja auch noch mütterliche Einflussnahmen wie die schon lange diskutierte Beeinflussung der Geschlechtsausprägung durch Östrogen (z. B. Paitz & Bowden, 2011) dabei einer Erklärung nähergebracht wurde, denn sowohl Ma et al., (2022) als auch Marroquín-Flores et al., (2022) konnten zeigen das Östrogene eine der Temperatur nachgeschaltete Rolle dabei spielen.
Allerdings eine der wohl wirklich bahnbrechenden Erkenntnisse in Bezug auf die temperaturabhängige Geschlechtsausprägung (TSD) die sich sicherlich auch leicht auf Schildkröten mit TSD übertragen lässt wurde von Bock et al., (2022) an Alligatoren beschrieben und führte zur Erkenntnis, dass man aus den epigenetischen Methylierungsmuster der DNS rückwirkend die Temperaturprofile ablesen kann die während der gesamten Entwicklung auf den Embryo und Fötus eingewirkt haben. Damit wird es sicher auch sehr bald möglich werden bei den im Freiland unter natürlichen Bedingungen inkubierenden Schlüpflingen allein durch die Abnahme von etwas Blut die Inkubationstemperaturbedingungen in Abhängigkeit zum Geschlecht zu analysieren. Letzteres belegt klar die Rolle der Epigenetik die dazu beiträgt, dass sich verändernde Umweltbedingungen auf den individuellen sich entwickelnden Phänotyp übertragen lassen. Dadurch ergeben sich bislang ungeahnte Möglichkeiten für genauere Analysen zur Entwicklung von exakteren Prognosemodellen zur Abschätzung der Veränderungen die sich durch den Klimawandel ergeben könnten. Ebenso stellt sich hier auch gleich die interessante Frage wie lange solche während der Inkubation entstandenen temperaturabhängigen Methylierungsmuster im jeweiligen Individuum erhalten bleiben und welche Rolle sie eventuell weiterhin im subadulten oder adulten Phänotyp spielen könnten? Zumindest wäre es, wenn sie für längere Zeit erhalten bleiben, äußerst interessant auch die Temperaturbedingungen zurückzuverfolgen unter denen sich z. B. die Elterntiere oder die sehr alten Exemplare einer bestehenden Population entwickelt hatten, um sie mit der heutigen Situation zu vergleichen. Daraus ließe sich weit mehr erkennen als aus den derzeit so häufig favorisierten zu kurz greifenden Prognosemodellen.
Hier möchte ich aber auch gleich noch eine weitere Erkenntnis anführen, die häufig übersehen wird und die zu Fehlinterpretationen führt. Denn trotz aller Modellprognosen bezüglich der Verschiebung bei den Geschlechterverhältnissen in Folge des Klimawandels (siehe z. B. Valenzuela et al., 2018) zeigt uns die Arbeit von Leivesley et al., (2022) wieder einmal mehr, dass Schildkröten auch lernfähig sind (Roth et al., 2019; Xiao et al., 2021 und den dortigen Kommentaren) und über Nistplatzauswahl und mittels einer angepassten Nesttiefe in Abhängigkeit zur Jahreszeit dazu beitragen können, dafür zu sorgen, dass das Geschlechterverhältnis über die Jahre stabil und ausgeglichen gehalten werden kann. Letzteres ist auch mit der Grund, weshalb ich fest davon ausgehe, dass wir selbst unter der Situation, dass wir die molekularen, temperaturabhängigen Grundlagen voll verstanden haben noch weit von dem entfernt sein werden, um zu prognostizieren was in der „Freien Wildbahn“ wirklich diesbezüglich passieren wird, denn bislang werden diese kognitiven Fähigkeiten der Individuen so gut wie nie in die Modelle einbezogen und es sogar fraglich bleiben dürfte ob wir das auch tatsächlich einmal erreichen könnten. Insofern stellt nämlich Kognition nicht nur in Bezug auf ESD, sondern in Bezug auf den gesamten Phänotyp eine wesentliche Erweiterung und Ausdifferenzierung des Genotyps dar die im Laufe der Evolution sich insbesondere auch durch Fähigkeiten zur akustischen Kommunikation bis hin zur Entwicklung von Sprache weiterverfolgen lässt (siehe dazu in Bezug auf Schildkröten auch Ferrara et al., 2013; Gilles et al., 2009).

In diesem Sinne möchte ich ihnen auch weiterhin trotz aller Krisen einen schildkrötologisch interessanten Rutsch ins neue Jahr 2023 wünschen.

Literatur

Bock, S. L., C. R. Smaga, J. A. McCoy & B. B. Parrott (2022): Genome-wide DNA methylation patterns harbour signatures of hatchling sex and past incubation temperature in a species with environmental sex determination. – Molecular Ecology 31(21): 5487-5505 oder Abstract-Archiv.

Ferrara, C. R., R. C. Vogt & R. S. Sousa-Lima (2013): Turtle Vocalizations as the First Evidence of Posthatching Parental Care in Chelonians. – Journal of Comparative Psychology 127(1): 24-32 oder Abstract-Archiv.

Ge, C., J. Ye, C. Weber, W. Sun, H. Zhang, Y. Zhou, C. Cai, G. Qian & B. Capel (2018): The histone demethylase KDM6B regulates temperature-dependent sex determination in a turtle species. – Science 360(6389): 645-648 oder Abstract-Archiv.

Giles, J. C., J. A. Davis, R. D. McCauley & G. Kuchling (2009): Voice of the turtle: the underwater acoustic repertoire of the long-necked freshwater turtle, Chelodina oblonga. – The Journal of the Acoustical Society of America 126(1): 434-443 oder Abstract-Archiv.

Jensen, E. L. S. J. Gaughran, N. A. Fusco, N. Poulakakis, W. Tapia, C. Sevilla, J. Málaga, C. Mariani, J. P. Gibbs & A. Caccone (2022): The Galapagos giant tortoise Chelonoidis phantasticus is not extinct. – Communications Biology 5(1): 546 oder Abstract-Archiv.

Leivesley, J. A., E. G. Nancekivell, R. J. Brooks, J.D. Litzgus & N. Rollinson (2022): Long-Term Resilience of Primary Sex Ratios in a Species with Temperature-Dependent Sex Determination after Decades of Climate Warming. – The American Naturalist 200(4): 532-543 oder Abstract-Archiv.

Ma, X., F. Liu, Q. Chen, W. Sun, J. Shen, K. Wu, Z. Zheng, J. Huang, J. Chen, G. Qian & C. Ge (2022): Foxl2 is required for the initiation of the female pathway in a temperature-dependent sex determination system in Trachemys scripta. – Development 149(13): dev200863 oder Abstract-Archiv.

Marroquín-Flores, R. A., R. T. Paitz & R. M. Bowden (2022): Temperature fluctuations and estrone sulfate affect gene expression via different mechanisms to promote female development in a species with temperature-dependent sex determination. – Journal of Experimental Biology225(16): jeb244211 oder Abstract-Archiv.

Paitz, R. T. & R. M Bowden (2011): Biological activity of oestradiol sulphate in an oviparous amniote: implications for maternal steroid effects. – Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences 278: 2005-2010 oder Abstract-Archiv.

Roth, T. C. II, A. R. Krochmal & L. D. LaDage (2019): Reptilian Cognition: A More Complex Picture via Integration of Neurological Mechanisms, Behavioral Constraints, and Evolutionary Context. – Bioessays 41(8): e1900033 oder Abstract-Archiv.

Xiao, F., R. Bu, L. Lin, J. Wang & H. Shi (2021): Home-site fidelity and homing behavior of the big-headed turtle Platysternon megacephalum. – Ecology and Evolution 11(11): 5803-5808 oder Abstract-Archiv.

Galerien