Vargas-Ramírez, M., S. Caballero, M. A. Morales-Betancourt, C. A. Lasso, L. Amaya, J. G. Martínez, M. das Neves Silva Viana, R. C. Vogt, I. P. Farias, T. Hrbek, P. D. Campbell & U. Fritz (2020): Genomic analyses reveal two species of the matamata (Testudines: Chelidae: Chelus spp.) and clarify their phylogeography. – Molecular Phylogenetics and Evolution 148.
Genomanalysen zeigen zwei Spezies für die Fransenschildkröte, Matamata (Testudines: Chelidae: Chelus spp.) und klären deren Phylogeographie.
DOI: 10.1016/j.ympev.2020.106823 ➚
Die Matamata ist eine der charismatischsten Süßwasserschildkröten der Erde, die weit verbreitet im nördlichen Südamerika vorkommt. Es gab Debatten darüber, ob es sich dabei um zwei Unterarten handelt oder ob sie sogar als zwei Arten anerkannt werden sollten, weil sich sowohl ihr geographisches Verbreitungsgebiet wie auch ihre Morphologie unterscheiden. Trotz dieser Beobachtungen ist die Matamata als unverwechselbar allgemein bekannt, aber ihre phylogenetische Entwicklungsgeschichte, ihr Erhaltungsstatus und ihre Biogeographie sind weitgehend unbekannt geblieben. In dieser Studie untersuchten wir die phylogenetische Differenzierung der Matamata basierend auf drei mitochondrialen DNS-Fragmenten (2168 bp der Kontrollregion der Cytochromoxidaseuntereinheit I sowie des Cytochrom-b-Gens), eines nukleären, genomischen DNS-Fragments (1068 bp des R35 Introns) sowie 1661 Einzelnukleotidpolymorphismen (SNPs). Unsere molekularen und morphologischen Analysen verwiesen auf die Exsistenz von zwei genetisch sehr verschiedenen Evolutionslinien der Matamatas, die sich im späten Miozän (ungefähr vor 12,7 Millionenjahren) aufgespalten haben, was zeitlich sehr gut mit der Entstehung des Orinokobeckens übereinstimmt. Als Ergebnis unserer Analysen beschreiben wir eine genetisch und morphologisch hochgradig distinkte Matamata für das Orinokobecken und das Becken des Rio Negro sowie der Zusammenflüsse des Essequibo, welche als neu für die Wissenschaft anzusehen ist und als (Chelus orinocensis sp. nov.) bezeichnet wird. Im Gegensatz dazu beschränkt sich die Verbreitung von Chelus fimbriata sensu stricto auf das Amazonasbecken und die Abflüsse des Mahury. Zudem zeigten die Untersuchungen, dass jede Art eine phylogeographische Differenzierung aufweist. Für C. orinocensis ergibt sich eine moderate mitochondriale Aufspaltung zwischen jenen im Orinoko und jenen des Río Negro. Für C. fimbriata zeigt sich eine ausgeprägtere Differenzierung, die die Zugehörigkeit zu den einzelnen Flusssystemen widerspiegelt. Eine mitochondriale Klade konnte für den Amazonas, Ucayali und Mahuryfluss identifiziert werden während eine andere bei den Exemplaren der Flüsse Madeira und Jaci Paraná vorhanden war. Die Exemplare von C. orinocensis in den Flüssen Essequibo und Branco Riversei besitzen. Haplotypen die eine dritte Klade bilden und die ein Cluster mit jenem von C. fimbriata bilden. Allerdings zeigen die phylogenetischen Analysen des R35-Introns sowie die SNP-Daten, dass die Matamatas der Flüsse Essequibo und Branco mit jenen der neuen Spezies übereinstimmen. Das lässt vermuten, dass es hier vor langer Zeit zu einem Genfluss mit mitochondrialer Introgression gekommen ist. Chelus orinocensis wird für den Tierhandel in Kolumbien und Venezuela gesammelt. Allerdings ist weder das Ausmaß des Handels noch dessen Einflussnahme auf die Populationen bekannt. Deshalb erscheint es als essentiell mehr Informationen zu sammeln und die Tierentnahmen über das gesamte Verbreitungsgebiet hinweg zu erfassen, um bessere Erkenntnisse über deren Erhaltungsstatus zu erhalten und damit entsprechende Erhaltungsstrategien und Managementmaßnahmen zu entwickeln.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Hoffen wir einmal nicht, dass die Beschreibung von nun zwei Arten die Sammelleidenschaft und den zukünftigen Handel – wie so oft in der jüngeren Vergangenheit – noch zusätzlich anfacht. Allerdings zeigt uns diese Arbeit auch wieder sehr schön über welche Zeiträume sich solche Speziationsereignisse entwickeln und welche Bedeutung dabei dem Genfluss und der genetischen Introgression zukommen. Heute diskutieren wir die zu verzeichnenden Temperaturanstiege, die mit der globalen Klimaerwärmung einhergehen, meist nur unter dem Erhaltungsaspekt. Meist unter Einbezug der Prognosen für die Aridifizierung (Austrocknung) von bestimmten Regionen der Erde, die mit einem erhöhten Aussterberisiko einhergehen mögen. Allerdings sollten wir auch sehen, dass das Abschmelzen der großen Gletscher und Polkappen wohl dazu führen wird, dass der Meeresspiegel ansteigen dürfte. Letzteres würde sicherlich zu einem Rückstau bei den ins Meer mündenden Flüssen führen und eine insgesamt vergrößerte Wasserfläche würde bei höheren Temperaturen in etlichen Gebieten auch zu erhöhten Regenmengen führen, sodass sich einstmals getrennte Flusssysteme auch wieder erneut vereinen könnten (siehe auch Georges et al., 2018). Die Folge wäre wahrscheinlich wieder eine erneute Introgressionswelle die vielleicht über Jahrtausende oder Jahrmillionen erneut zu einer genetischen Durchmischung führen dürfte. Letzteres birgt ein hohes Potential für einen gesteigerten Genfluss, der sich bekanntlich, wie früher schon angesprochen, als positiv im Sinne der Arterhaltung auswirken dürfte (siehe Pennisi, 2016 und Kommentar zu Renner, 2016). Hier wird eigentlich bei diesen bislang theoretischen Gedankenspielen deutlich, welches Potential sich Schildkröten durch ihr hohes Hybridisierungspotential im Sinne des Langzeitüberlebens erhalten haben: Sie besitzen die Potenz zur meist uneingeschränkten globalen Introgression, wie es für viele Spezies in der jüngeren Vergangenheit dank dieser molekulargenetischen Studien aufgeklärt wurde. Natur-und Artenschutz bleibt trotzdem wichtig, denn dieses positiv wirkende Langzeitüberlebenspotential lässt sich nur erhalten, wenn die derzeit noch getrennt existierenden Formen auch solange überleben bis sie es in einer sich drastischer verändernden Welt wieder erfolgreich nutzen können! Wir sollten also auch aus solchen Untersuchungen lernen in größeren und globaleren Zeiträumen zu denken und uns nicht nur darauf besinnen, wie man den eigenen Sammeltrieb befriedigen oder das eigene Konto aufstocken könnte. Ich muss manchmal wirklich schmunzeln wie einige unserer Mitbürger reagieren, wenn ich die Anzeigen für Schildkröten in einigen der angezeigten Online-Handelsplattformen anschaue, wo urplötzlich aus einer früher 30-60 Euro kostenden Sternotherus minor minor kurz nach der Beschreibung einer möglicherweise neuen Art (siehe Scott et al., 2018) eine um ein Vielfaches teuerere Sternotherus intermedius oder gar Kinosternon intermedius angeboten wird, was nicht nur für Schildkröten zutrifft (Law, 2019; Vinke & Vinke, 2015). Sicher werden einige sagen Letzteres sei menschlich und zeichnet den Kommerz aus. Sollte uns das aber nicht zeigen, dass es an der Zeit ist umzudenken? Wir sind von dieser Natur und ihrer Diversität als eigene Spezies Homo sapiens auch im positiven Sinn viel abhängiger als wir oft glauben. Leider wird uns letzteres meist erst im negativen Sinn deutlich und bewusster, Die biologische Diversität und dass an sie geknüpfte Überlebenspotential trifft auf alle Spezies dieses Planeten zu. Das sehen wir an den gegen Antibiotika resistenten Bakterien, die diese Fähigkeit bis zur Multiresistenz weitervererben um zu überleben. Ja und manche mögen zwar noch darüber diskutieren, ob Viren auch zu den Lebewesen zählen, aber auch sie verändern sich durch Mutation und erobern neue Lebensräume, wie wir das gerade wieder mehr oder weniger schmerzlich erfahren. Ja und Letzteres macht auch deutlich, dass es im Großen-und-Ganzen eben doch um den Erhalt von DNS, oder gar nur RNS, geht. Die dazugehörige Form oder Morphologie spielt sogar manchmal eine nicht unwesentliche, aber ich möchte mal sagen, zweitrangige Rolle, denn sie wird oft, durch adaptive Prozesse der jeweiligen Umwelt entsprechend angepasst, um die Überlebensfähigkeit zu sichern (siehe auch Hennessy, 2015, Sagonas et al., 2019; Roth et al., 2019; Chen & Pfennig, 2020 und die dortigen Kommentare sowie Bidmon, 2018).
Literatur
Bidmon, H.-J. (2018): Das Humangenomprojekt, Epigenetik und die Zukunft von Reptilien temperaturabhängiger Geschlechtsausprägung – Ein Kommentar. – Schildkröten im Fokus 15(3): 11-18, 2018 ➚.
Chen, C. & K. S. Pfennig (2020): Female toads engaging in adaptive hybridization prefer high-quality heterospecifics as mates. – Science 367(6484): 1377-1379 oder Abstract-Archiv.
Georges, A., B. Gruber, G. B. Pauly, D. White, M. Adams, M. J. Young, A. Kilian, X. Zhang, H. B. Shaffer & P. J. Unmack (2018): Genome-wide SNP markers breathe new life into phylogeography and species delimitation for the problematic short-necked turtles (Chelidae: Emydura) of eastern Australia. – Molecular Ecology 27(24): 5195-5213 oder Abstract-Archiv.
Hennessy, E. (2015): The Molecular Turn in Conservation: Genetics, Pristine Nature, and the Rediscovery of an Extinct Species of Galapagos Giant Tortoise. – Annals of the Association of American Geographers 105(1): 87-104 oder Abstract-Archiv.
Law, Y.-H. (2019): New tarantula highlights illegal trade in spiders Arachnologists named species based on poached specimens. – Science 363(6430): 914-915.
Pennisi, E. (2016): Shaking up the tree of life. – Species were once thought to keep to themselves. Now, hybrids are turning up everywhere, challenging evolutionary theory. – Science 354(6314): 817-821; DOI: 10.1126/science.354.6314.817 ➚.
Renner, S. S. (2016): A Return to Linnaeus's Focus on Diagnosis, Not Description: The Use of DNA Characters in the Formal Naming of Species. – Systematic Biology 65(6): 1085-1095 oder Abstract-Archiv.
Roth, T. C. II, A. R. Krochmal & L. D. LaDage (2019): Reptilian Cognition: A More Complex Picture via Integration of Neurological Mechanisms, Behavioral Constraints, and Evolutionary Context. – Bioessays 41(8): e1900033 oder Abstract-Archiv.
Sagonas, K., A. Runemark, A. Antoniou, P. Lymberakis, P. Pafilis, E. D. Valakos, N. Poulakakis & B. Hansson (2019): Selection, drift, and introgression shape MHC polymorphism in lizards. – Heredity (Edinb) 122(4): 468-484 oder Abstract-Archiv.
Scott, P. A., T. C. Glenn & L. J. Rissler (2018): Resolving taxonomic turbulence and uncovering cryptic diversity in the musk turtles (Sternotherus) using robust demographic modeling. – Molecular Phylogenetics and Evolution 120: 1-15 oder Abstract-Archiv.
Vinke, T. & S. Vinke (2015): Can illegal be legal within the European Union? – Schildkröten im Fokus Online 2015 1: 1-6.
Galerien
Chelus fimbriatus – Fransenschildkröte