Topping, N. E. & N. Valenzuela (2021): Turtle Nest-Site Choice, Anthropogenic Challenges, and Evolutionary Potential for Adaptation. – Frontiers in Ecology and Evolution 9: 808621.
Die Nistplatzauswahl, anthropogene Veränderungen und das evolutionäre Potential für Adaptation.
DOI: 10.3389/fevo.2021.808621 ➚
Ovipare Tiere wie Schildkröten legen Eier deren erfolgreiche Entwicklung oder deren Zerstörung von den vorherrschenden Umweltbedingungen abhängig ist, wobei letztere einen Einfluss auf den Phänotyp der Schlüpflinge haben (Morphologie, Physiologie und bei vielen Reptilien auch auf deren Geschlechtsausprägung) wie auch auf Wachstum und Überleben und zwar sowohl im Nest als auch noch nach dem Schlupf ausüben. Da Schildkröten keine wesentliche mütterliche Fürsorge betreiben stehen konsequenterweise sowohl die mütterliche Ausstattung der Eier sowie das Nistplatzauswahlverhalten der Weibchen unter einem hohem Selektionsdruck. Zudem werden die Bedingungen wann und wo Nester angelegt werden durch den Menschen beeinflusst, da sich anthropogene Störungen der Habitate, die auch geeignete Nistflächen verändern auswirken. Dabei werden die Gelege chemischen Kontaminierungen ausgesetzt oder die thermischen und hydrologischen Umweltbedingungen werden so verändert, dass sie sich dann auf die sich entwickelnden Embryonen und Schlüpflinge im Freiland auswirken sowie deren Überlebensrate und die Geschlechtsausprägung der jeweiligen Taxa mit temperaturabhäniger Geschlechtsausprägung beeinflussen. Tatsächlich wirken sich globale und lokale Umweltveränderungen auf die Luft-, Wasser- und Bodentemperatur sowie auf die Bodenfeuchte aus. Daraus ergeben sich Auswirkungen auf das Sonnenbadeverhalten, die Ei- und Gelegeentwicklung was die derzeitigen arteigenen und individuellen mütterlichen Nistplatzauswahlstrategien als schlecht angepasst erscheinen lassen was zu hoher Schlüpflingsmortalität und drastisch verschobenen Geschlechterverhältnissen führt. Endokrin wirksame Chemikalien können sowohl bei TSD wie auch bei GSD das Geschlecht der Embryonen verändern. Die Anpassungsfähigkeit an solche anthropogenen Einflussfaktoren ist abhängig von der genetischen Variabilität aber bislang wurden nur wenige bis gar keine ererbten Anpassungen in Bezug auf die Nistplatzauswahl festgestellt. Allerdings eine moderate Vererbbarkeit für die Temperaturgrenzwertbereiche (zu denen sich Männchen und Weibchen bei TSD-Spezies entwickeln) existiert unter Freilandbedingungen. Ebenso kommt es zu Unterschieden zwischen den jeweiligen Populationen in Bezug auf die Temperaturgrenzwerte die festlegen welches Geschlecht sich entwickelt wobei diese sich auch auf die potentiellen Expressionsmuster der geschlechtsregulierenden Gene wie auch auf die Entwicklungsgeschwindigkeit der Embryonen und deren Geschlechterverhältnis auswirkt. Wenn diese Variabilität sich auf additive vielfältige genetische Komponenten bezieht, darf man eine gewisse Adaptationsfähigkeit unter der Voraussetzung erwarten, dass die Geschwindigkeit mit der sich die Umweltbedingungen verändern nicht das Ausmaß mit der sich die Evolutionsrate verändert überschreitet. Es werden zukünftig dringend Forschungsarbeiten benötigt die diese offensichtlichen offenen Fragen in Bezug auf unser ökologisches Wissen und Evolutionsverständnis im Hinblick auf das Adaptationspotential bei Nistplatzauswahl adressieren wozu sicherlich die Integration über mehrere biologische Organisationsniveau nötig sein wird.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Diese etwas komplexe Zusammenfassung des Übersichtsartikels versucht dieses Thema umfassend zu beleuchten aber eben nur unter den bislang bekannten Aspekten, wobei auch manche Fehleinschätzungen oder Fehlannahmen beinhaltet sein mögen, da wir uns immer noch eingestehen müssen gar nicht alle Faktoren weder für die Nistplatzauswahl noch für die lokal-umweltspezifische Geschlechtsausprägung zu kennen. Ja, wir sollten auch nicht so tun als gäbe es auch nur die uns bislang bekannt gewordenen Möglichkeiten, denn es tauchen immer wieder einmal unerwartete Beobachtungen auf (siehe Warner et al., 2020). Wie erst kürzlich angedeutet stellen sich solche Fragen häufig (siehe erst jüngst Quintana et al., 2019 und den dortigen Kommentar). Obwohl Schildkröten durchaus in der Lage sind Nistplatzauswahl genauso wie Nestschutzmaßnahmen sich während ihrer Evolution anzueignen und sich entsprechend adaptiv anzupassen (siehe Erickson et al., 2020; Burns et al., 2020) so müsssen wir doch auch erkennen, dass die grundlegenden Entwicklungsbedingungen für die Embryonen erst einmal an vorderster Stelle von einem Nistplatz erfüllt werden müssen. Diese grundlegenden Voraussetzungen können wir nur um einmal ein Beispiel zu nennen als gravierend einstufen, dass es eben für Schildkröten wie die großen Podocnemisarten, deren Nistplätze schon seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden von Menschen ausgebeutet werden nicht möglich ist sich evolutiv dahingehend anzupassen, dass sie sie für Menschen unzugänglich verlagern könnten. Diese Tiere verfolgen auf vielfältige Weise ebenso wie die Meeresschildkröten eine Strategie der Massengelege in der „Hoffnung“, dass einige Wenige der Jungtiere der Ausbeutung durch Fressfeinde und Menschen entgehen. Aber trotz dieser nennen wir es einmal „Massenopferstrategie“ zeigen sie eine Verhaltensanpassung (Adaptation) dahingehend, dass die Mütter zum Zeitpunkt des Schlupfs mit ihrem Nachwuchs kommunizieren, um mit den Überlebenden in die entsprechenden Nahrungsgründe abzuwandern um ihnen damit bessere Überlebenschancen zu ermöglichen (Ferrara et al., 2013). Dazu ist sogar eine gewisse kognitive Leistung und ein Bewusstsein von nöten das sicher nicht mit dem des Menschen übereinstimmt, dass aber so effizient zu sein scheint, dass es diesen Schildkröten ein Überleben auf Populationsniveau bis heute ermöglicht hat. Wenn wir diese Evolutionslinien nicht aus menschlicher Übermoral und Selbstüberschätzung in mittelfristiger Zukunft auslöschen werden unsere Kinder vielleicht noch miterleben, dass die Simulation von Evolutionsfaktoren und Selektionsfaktoren die darauf auf vielfältige lokalspezifische Weise Einfluss nehmen auch unter Zuhilfenahme von Quantencomputern und AI an ihre Grenzen stossen werden. Wir sollten zu dem nicht vergessen, dass es sich dabei um dynamische Prozesse handelt die seit Jahrmillionen sich mit den verschiedensten Umweltbedingungen verändern mussten. Letzteres ist ja gerade ein Aspekt den wir nur zu offt übersehen (wollen), da wir zu sehr von dem eher statischen Begriff Arterhaltung also der Fixierung eines Ist-Zustands geprägt wurden, den es aber so für Geologie, Fauna und Flora auf diesen Planeten langfristig nie gab und geben wird. Vielleicht sollten wir uns eher darauf einigen, dass wir den Begriff Arterhaltung durch den Begriff Evolutionspotentialaufrechterhaltung ersetzen um dieser Dynamik gerechter zu werden.
Literatur
Burns, T. J., R. R. Thomson, R. A. McLaren, J. Rawlinson, E. McMillan, H. Davidson & M. Kennedy (2020): Buried treasure – marine turtles do not ‘disguise’ or ‘camouflage’ their nests but avoid them and create a decoy trail. – Royal Society Open Science 7(5): 200327 oder Abstract-Archiv.
Erickson, J., C. Kurzmann Fagundes, M. d. S. Magalhaes, L. C. Dias, R. C. Vogt, I. P. Farias & J. Zuanon (2020): Natural nests incubated in two different soil types lead to an overall balanced sex ratio in Podocnemis unifilis hatchlings on the lower Purus River, Brazil. – Salamandra 56(4): 309-316 oder Abstract-Archiv.
Ferrara, C. R., R. C. Vogt & R. S. Sousa-Lima (2013): Turtle Vocalizations as the First Evidence of Posthatching Parental Care in Chelonians. – Journal of Comparative Psychology 127(1): 24-32 oder Abstract-Archiv.
Quintana, I., D. Norris, A. Valerio, F. G. Becker, J. P. Gibbs & F. Michalski (2019): Nest removal by humans creates an evolutionary trap for Amazonian freshwater turtles. – Journal of Zoology 309(2): 94-105 oder Abstract-Archiv.