Pieau, C. & M. Dorizzi (2004): Oestrogens and temperature-dependent sex determination in reptiles: All is in the gonads. – Journal of Endocrinology 181(3): 367-377.
Östrogene und die temperaturabhängige Geschlechtsbestimmung bei Reptilien: Alles ist in den Gonaden.
Bei zahlreichen Arten von Eier legenden Reptilien ist der erste Schritt der Geschlechtsausprägung abhängig von der Inkubationstemperatur der Eier. Verweiblichung der Gonaden von sich bei männlichen Inkubationstemperaturen entwickelnden Jungen durch exogen zugeführte Östrogene und Vermännlichung derselben durch Antiöstrogene und Aromataseinhibitoren bei weiblichen Inkubationstemperaturen zeigen eindeutig, dass die frühe Geschlechtsausprägung von Östrogenen abhängig ist. Trotzdem konnten die zahlreich durchgeführten Studien am sich entwickelnden Gonaden-Nebennieren-Mesonephros-Komplex (frühe Nieren und Keimdrüsenanlage) bislang keine Unterschiede in den Östrogenspiegeln und in der Aromataseexpression während der für die Geschlechtsausprägung kritischen Periode bei unterschiedlich warm inkubierten Embryonen nachweisen. Somit war es fraglich, ob Östrogene und Aromatase wirklich ein Rolle bei der frühen Geschlechtsdifferenzierung spielen.
Im Gegensatz dazu zeigten Experimente die nicht am Gesamtkomplex, sondern allein an der Gonadenanlage während der thermosensitiven Periode durchgeführt wurden, dass die Gonadenanlage selbst während dieser Phase temperatursensitiv reagiert und zudem in der Lage ist, eigene, lokale Östrogenspiegel und Aromataseaktivitäten zu produzieren, wodurch sie ihre Differenzierung zum einen oder anderen Geschlecht bestimmt. Östrogene wirken während dieser Differenzierungsphase direkt sowohl auf die kortikalen als auch auf die medullären Anteile der Gonadenanlage. Aus diesen Daten haben wir geschlossen, dass es keinen Grund gibt, nach anderen, zusätzlichen Organen zu suchen, die auf die Geschlechtsausprägung während der temperaturabhängigen Geschlechtsbestimmung bei Reptilien einwirken. Unter Einbezug der Daten von anderen Wirbeltieren schlagen wir zwei Forschungsschwerpunkte vor:
- Die Untersuchung der Regulation und Expressionsmuster für das Aromatasegen und
- die Aufklärung der molekularen und zellulären Mechanismen der Zielzellen für Östrogene während der Geschlechtsdifferenzierung zu analysieren, und zwar sowohl bei Arten mit temperaturabhängiger Geschlechtsbestimmung als auch bei Arten mit genetischer Geschlechtsbestimmung.
Kommentar von H.-J. Bidmon
Diese Übersichtsarbeit arbeitet sehr gut heraus, dass die durch Östrogen induzierte Gonadenentwicklung anders reguliert zu sein scheint, als man dies von zahlreichen anderen Organen her kennt, die der Ausprägung sekundärer Geschlechtsmerkmale und geschlechtsspezifischer Verhaltensweisen dienen. Wohl mit ein Grund dafür, dass man mit dem gängigen Lehrbuchwissen bei der Erklärung der Östrogenwirkung bei temperaturabhängiger Geschlechtsausprägung häufig zu Fehleinschätzungen kam.