Pazifische Sumpfschildkröte, Actinemys marmorata, – © H. Bradley Shaffer

Hoffmann - 2011 - 01

Hoffmann, A. A. & C. M. Sgro (2011): Climate change and evolutionary Adaptation. – Nature 470(7335): 479-485.

Klimawechsel und evolutive Anpassung.

DOI: 10.1038/nature09670 ➚

Die evolutive Anpassung kann sehr schnell geschehen und ist eine potentielle Hilfe für Spezies, die Umweltstress oder durch den Klimawandel bedingten ökologischen Veränderungen ausgesetzt sind. Es ist eine Aufgabe der Wissenschaft zu erkennen, wann und wie die Evolution einsetzt und wer im evolutiven Sinn zu den potentiellen Gewinnern oder Verlierern gehört, wie beispielsweise Arten, die keine Anpassungskapazität zeigen, weil sie bereits an ihrem physiologischen Limit existieren. Evolutive Prozesse müssen auch in Managementprogramme einbezogen werden, welche darauf abzielen, den durch den raschen Klimawandel bedingten Biodiversitätsverlust zu minimieren. Diese Aufgabe kann durch die Entwicklung realistischer Modelle zum evolutiven Wandel in Zusammenhang mit experimentellen Daten über alle Taxa hinweg angegangen werden.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Liebe Leser, auch diese Arbeit ist nicht gerade auf Schildkröten fokussiert, sondern stellt exemplarisch in Form eines Reviews sehr offen und unvoreingenommen die wesentlichen Erkenntnisse über Anpassungsprozesse und evolutive Richtungswechsel zusammen. Genau aus diesem Grunde halte ich die Arbeit für sehr wertvoll und hilfreich, um sich persönlich zu informieren, zumindest dann, wenn man sich selbst für Arterhaltung und Naturschutz engagiert. Zugegeben, die mathematischen Berechnungen zur Analyse evolutiver Trends sind sicher nicht für jeden so einfach ohne Hintergrundwissen nachzuvollziehen, aber dennoch kann man sich anhand der beschrieben Fakten einen Überblick über die Vielfalt der Möglichkeiten und über die Zusammenhänge verschaffen. Auch hier plädieren die Autoren dafür, die Auswirkungen von Biodiversitätsveränderungen anhand von Modellen zu erarbeiten, die auf abgesicherten Daten gut untersuchter und verstandener Organismen beruhen, da man wesentliche Richtungsentscheidungen schneller treffen muss, als dass man auf komplette Inventarlisten warten könne. Was insbesondere auch deshalb gilt, weil neu beschriebene Taxa zwar mit der Beschreibung erfasst werden, aber man dann immer noch nichts über die Rolle weiß, die sie im Ökosystem spielen, oder die Bedingungen kennt, die sie selbst zum Überleben bräuchten (siehe auch Kommentar zu Boero 2010).
Einen wichtigen Aspekt bei der Betrachtung der Fragestellung, den die Autoren hervorheben, möchte ich gleich ansprechen, da er sehr oft gerade von der klassischen Systematik und den Hobbysystematikern falsch eingeschätzt und gehandhabt wird. Es gibt zwei Arten der Anpassung ein genetisches Anpassungspotential, das im Sinne von Mutation und Selektion auf die Taxa einwirkt und ein so genanntes plastisches Anpassungspotential, welches sowohl auf individueller Ebene wie auch auf Populationsebene wirkt, wobei es zwar auch zu genetischen Veränderungen kommt aber eben nicht im Sinne einer völligen Neubildung, sondern zu einer Anpassung ein und derselben Spezies. Wobei zum Beispiel besonders große oder kleine Individuen einer Art bei bestimmten Umweltveränderungen Vorteile haben (Diesem Punkt widmen sie sogar ein eigenes Kapitel: „Plastischer versus genentischer Wandel in Raum und Zeit“). Solche plastischen Veränderungen betreffen erst einmal einzelne Individuen die dadurch Selektionsvorteile haben. Die uns allen am besten bekannten Beispiele dafür sind unsere Haustiere (Rassen), denn Deutscher Riese und Weißer Zwergwidder sind beides Kaninchen mit deutlichen Rasseunterschieden ebenso wie Deutscher Schäferhund und Yorkshire Terrier Hunde sind und die Norwegische Waldkatze sich als Rasse deutlich von der Siamkatze unterscheidet. Hier hat der Mensch über die so genannte Definition von Zuchtzielen und Richtlinien einen bestimmten Selektionsdruck erzeugt, der zu den unterschiedlichsten plastischen Anpassungen der jeweiligen Spezies geführt hat. Auf Schildkröten bezogen kennen wir solche Phänomene, wenn zum Beispiel größere Schlüpflinge bessere Überlebenschancen haben als kleinere (siehe O'Brien et al. 2005). Auch in Bezug auf
Testudo marginata und T. marginataweissingeri“ kann eine plastische Anpassung an bestimmte Mikrohabitate angenommen werden. Ebenso wie Fordham et al. (2007) plastische Veränderungen für Schlangenhalsschildkröten, Germano & Bury (2009) Anpassungen bei Actinemys in unterschiedlichen Biotopen oder es Fritz et al. (2010) für Stigmochelys beschreiben, wobei wohl eines der eindrucksvollsten Beispiele aus jüngster Zeit von Wolak et al. (2010) für die Diamantschildkröte beschrieben wurde. Hier bilden sich zunächst einmal keine neuen Arten, sondern eine Art oder eine Population einer Art passt sich neuen Umweltbedingen an. Dabei geht es aber nicht nur um die für die meist leichter erkennbaren Formveränderungen, sondern auch um physiologische Anpassungen, wie beispielsweise Dürre und Trockenheit, andere pH-Werte oder Osmolarität des Wasser. Ja sogar eine Ernährungsumstellung von karnivor zu herbivor oder umgekehrt kann vorkommen. Auch populationsspezifische Veränderungen bei der Pivotaltemperatur zur Geschlechtsbestimmung bei Spezies mit temperatur-abhängiger Geschlechtsbestimmung gehören dazu. Wie die Autoren darlegen, gibt es hier bei den Systematikern häufig die größten Probleme, weil man eben sehr leicht dazu neigt, solch plastische Anpassungen als echte Arten neu zu beschreiben, obwohl es dazu noch gar keine stichhaltige Berechtigung gibt (siehe auch Rieppel & Kearney 2007). Bei den genetischen Anpassungen kommt es recht schnell zum Auftreten neuer Arten im Sinne von plötzlichen Veränderungen im Genom, wenn die Umwelt bestimmte Mutanten heraus selektioniert.
Darüber hinaus heben die Autoren noch hervor, dass das Phänomen der Hybridisierung auch zur genetischen Anpassung zählt und zur genetischen Variabilitätssteigerung beiträgt. Diesem Thema ist ein eigener Abschnitt gewidmet, der einleitend darauf eingeht, dass Hybridisierung natürlich erst einmal zum Biodiversitätsverlust beiträgt (denn aus zwei Arten wird eine Hybride), was bei bestimmten Arten auch negative Auswirkungen haben kann. Ein Aspekt, der oft überbewertet wird, so dass Hybridisierung erst einmal von der Allgemeinheit als negativ betrachtet wird. Allerdings beschreiben sie im zweiten Teil, wie Hybridisierung zur Artenbildung und Steigerung der Biodiversität beitragen kann, und eines der best untersuchten Beispiele dazu sind die Darwinfinken der Galapagosinseln, deren Artenvielfalt – wie man heute aus den molekulargenetischen Untersuchungen weiß – ohne Hybridisierung in einer solchen Vielfalt gar nicht hätte entstehen können (Ich erinnere daran, Vögel sind Wirbeltiere. Weil manche Kritiker anmerken, Hybridisierung würde nur bei den niederen Taxa eine Bedeutung haben, nicht aber bei den höher stehenden Wirbeltieren). Für Taxa, die dieses Potential nutzen können (und dazu gehören nun mal viele unserer Schildkrötenspezies, die bis heute – sprich über 225 Millionen Jahre – überlebt haben, ist es ein klarer Vorteil sich an Umweltveränderungen schneller anpassen zu können. (Darauf habe ich in der Vergangenheit in mehreren Kommentaren hingewiesen siehe z.B. Bowen & Karl (2007)).
Um es etwas vorstellbarer zu machen, ein konkretes Beispiel zu Klimawandel: Stellen Sie sich zwei Arten vor, die eine lebt im Tiefland und ist schon an wärmeres Klima angepasst, eine andere Art lebt am Berghang in höheren kühleren Biotopen und hat Schwierigkeiten sich steigenden Temperaturen auf plastische Weise schnell anzupassen (sie droht auszusterben). Aufgrund der Erwärmung kann die wärmeangepasste Tieflandart ins Hochland einwandern und einige Individuen beider Arten hybridisieren und einige der Hybriden haben Vorteile, weil sie sowohl etwas mehr Kälte auch als etwas mehr Hitze vertragen. Diese hätten für sich das Potential vergrößert, sich im weiteren Verlauf plastisch besser anzupassen zu können. Das Ergebnis ist zwar ein Hybrid, aber die DNS beider Arten hat bessere Überlebenschancen und kann zukünftig dazu beitragen, sich auch wieder in neue Arten auf die eine oder andere Weise aufzuspalten. Wenn man bedenkt, wie exponentiell das Risiko des Aussterbens mit abnehmender Individuenzahl ansteigt, und auch hier die Autoren eher für 1000 Individuen als 100 oder noch weniger plädieren, sollte man sich wirklich Gedanken machen, wie man mit diesen Erkenntnissen im Sinne eines Biodiversitätsmanagement umgeht.
Damit wären wir beim eigentlichen Punkt, dem Biodiversitätsmanagement. Warum ist das überhaupt ein Problem? Nun, solche Idealfälle wie ich sie oben in dem Beispiel mit der Tiefland- und Hochlandspezies angeführt habe, sind auf unserem Planeten Erde selten geworden, denn durch die Landschaftsfragmentierung gibt es diese zusammenhängenden Lebensräume kaum noch. (Eine einfache sechsspurige Autobahn am Fuße eines Berges kann schon verhindern, dass die Tieflandart überhaupt ihren Lebensraum in Richtung Berghang ausdehnen kann). Somit gibt es eigentlich für das Biodiversitätsmanagement bei sich schnell verändernden Klima nur zwei Möglichkeiten, zum einen Verbindungskorridore im Sinne von Konnektivität dort zu schaffen oder zu erhalten, wo das noch möglich ist, und zum anderen dass wir artifiziell dafür sorgen, dass die aufgebauten Barrieren überwunden werden können. Hier kann man versuchen, Arten umzusiedeln, die zum Beispiel in einem Gebiet leben, das sich zur Wüste entwickelt und nicht mehr aus eigener Kraft weg können oder dass wir auch und das ist schwieriger eventuell über gezielte Hybridisierungsversuche versuchen, das Anpassungspotential und damit die Überlebensfähigkeit zu steigern. Siehe auch Loarie et al. (2009).
Ich bin zwar optimistisch in Bezug auf die Überlebensfähigkeit im globalen Sinne, aber ich sehe äußerst pessimistisch in die Zukunft, wenn es darum geht, einzelne Arten vor diesem Hintergrundszenario zu erhalten. Sie fragen warum? Nun weil gerade im letzten Jahr Walker (2010) ein schönes Beispiel für die nördliche Spinnenschildkröte in Madagaskar geliefert hat. Schon 1981 hatte Roger Bour auf deren Schutz dringlichst hingewiesen und europäische und amerikanische Wissenschaftler und Schutzorganisationen beschäftigen sich seit fast 40 Jahren intensiv mit Madagaskar – Aber hat das was genützt? Wie Walker ausführt, ist das Habitat seit 1981 um weitere 80 % geschrumpft und es gibt nur noch drei fragmentierte Reliktpopulationen. Was haben also diese Wissenschaftler und Artenschützer und die Politiker, die über die Zuweisung der Forschungsgelder diese Art der Wissenschaft aus Steuergeldern finanzieren, unternommen? Anscheinend nicht viel – und wenn man sich an das Beispiel mit
Pyxis planicauda erinnert, wo ja der Hinweis auf deren Seltenheit erst recht noch mal so richtig zur Ausbeutung der Bestände für den Tierhandel beigetragen hat, dann muss man sich doch fragen dürfen, was wir dort eigentlich treiben? Ich will mich nicht wiederholen, aber nutzen wir bislang diese alarmierenden Artenrückgangsmeldungen nicht viel eher dazu, den Handelswert für diese Spezies höher zu treiben, als wirklich bestandssichernde Maßnahmen im Sinne eines von der Politik so häufig geforderten Biodiversitätsmanagement durchzuführen? Oder wäre es vielleicht sogar besser, man würde diese Forschungsaktivitäten eher einstellen, weil für Arten über die man nichts weiß und deren Seltenheitswert keiner kennt, es auch keine große Nachfrage gibt, was vielleicht dafür sorgen könnte, dass zumindest in den noch vorhandenen Biotopen die Individuenzahl nicht weiter durch Entnahmen für den illegalen Handel sinkt? Im Grunde genommen hat man doch seit Jahren eher das Gefühl, dass jegliche Art von Veröffentlichung, ob wissenschaftliche Publikation, Reisebericht oder auch Naturfilm eher Begehrlichkeiten weckt und damit dem Handel dient, als wirklich dazu beiträgt, den Schutz zu forcieren. Sicher Bernhard Grzimek hat mit seiner Art der Öffentlichkeitsarbeit wesentlich zur Einrichtung und Schaffung der afrikanischen, zum Teil vorbildlichen, transnationalen Nationalparks beigetragen, aber manchmal habe ich persönlich das Gefühl, diese Zeiten der Naturschutzgründerjahre sind vorbei und wiederholen sich auch so schnell nicht wieder. Vielleicht bräuchten wir auch wieder eine solche multimedia-wirksam auftretende Persönlichkeit, die sich dafür engagiert einsetzt und weit weniger politbürokratisch verwaltete Forschungsarbeit? Bislang sind wir zwar gut darin, die anstehenden Probleme zu erkennen, aber bei der Entwicklung von praktikablen, gesamtgesellschaftlich und transnational akzeptablen Lösungsmöglichkeiten sind wir kaum über das Stadium des Jammerns und Flickschusterns hinausgekommen.

Literatur

Boero, F. (2010): The Study of Species in the Era of Biodiversity – A Tale of Stupidity. – Diversity 2(1): 115-126 oder Abstract-Archiv.

Bowen, B. W. & S. A. Karl (2007): Population genetics and phylogeography of sea turtles. – Molecular Ecology 16(23): 4886-4907 oder Abstract-Archiv.

Fordham, D. A., A. Georges & B. W. Brook (2007): Demographic response of snake-necked turtles correlates with indigenous harvest and feral pig predation in tropical northern Australia. – Journal of Animal Ecology 76(6): 1231-1243 oder Abstract-Archiv.

Fritz, U., S.R. Daniels, M.D. Hofmeyr, J. Gonzalez, C.L. Barrio-Amoros, P. Široký, A.K. Hundsdorfer & H. Stuckas (2010): Mitochondrial phylogeography and subspecies of the wide-ranging sub-Saharan leopard tortoise Stigmochelys pardalis (Testudines: Testudinidae) – a case study for the pitfalls of pseudogenes and GenBank sequences. – Journal of Zoological Systematics and Evolutionary Research 48(4): 348-359 oder Abstract-Archiv.

Germano, D. J. & R. B. Bury (2009): Variation in Body Size, Growth, and Population Structure of Actinemys marmorata from Lentic and Lotic Habitats in Southern Oregon. – Journal of Herpetology 43(3): 510-520 oder Abstract-Archiv.

Loarie. S. R., P. B. Duffy, H. Hamilton, G. P. Asner, C. B. Field & D. D. Ackerly (2009): The velocity of climate change. – Nature 462(7276): 1052-1055 oder Abstract-Archiv.

O'Brien, S., B. Robert & H. Tiandray (2005): Hatch size, somatic growth rate and size-dependent survival in the endangered ploughshare tortoise. – Biological Conservation 126(2): 141-145 oder Abstract-Archiv.

Rieppel, O. & M. Kearney (2007): The poverty of taxonomic characters. – Biology & Philosophy 22(1): 95-113 oder Abstract-Archiv.

Walker, R. C. J. (2010): The decline of the critically endangered northern Madagascar spider tortoise (Pyxis arachnoides brygooi). – Herpetologica 66(4): 411-417 oder Abstract-Archiv.

Wolak, M. E., G. W. Gilchrist, V. A. Ruzicka, D. M. Nally & R. M. Chambers (2010): A Contemporary, Sex-Limited Change in Body Size of an Estuarine Turtle in Response to Commercial Fishing & Conservation Biology 24(5): 1268-1277 oder Abstract-Archiv.