Oliv-Bastardschildkröte, Lepidochelys olivacea, – © Sando L. Bonatto

Vila - 2012 - 01

Vila, S. T., S. M. Vargas, P. Lara-Ruiz, E. Molfetti, E. C. Reis, G. Lôbo-Hajdu, L. S. Soares & F. R. Santos (2012): Nuclear markers reveal a complex introgression pattern among marine turtle species on the Brazilian coast. – Molecular Ecology 21(17): 4300-4312.

Nukleäre Marker enthüllen ein komplexes Introgressionsmuster innerhalb der Meeresschildkrötenarten der brasilianischen Küste.

DOI: 10.1111/j.1365-294X.2012.05685.x ➚

Grüne Meeresschildkröte, Chelonia mydas, – © Hans-Jürgen Bidmon
Grüne Meeresschildkröte,
Chelonia mydas,
© Hans-Jürgen Bidmon

Überraschenderweise wurde bei Meeresschildkröten eine hohe Rate an Hybriden beobachtet, die man entlang eines relative kurzen Abschnitts der brasilianischen Küste findet, der als Ablageplatz genutzt wird. Die mitochondrialen DNS-Daten zeigten, dass bis zu 43 % der der als Eretmochelys imbricata identifizierten Weibchen innerhalb dieser Zone (Bahia State of Brazil) Hybriden sind. Hierbei handelt es sich um die höchste Hybridisierungsrate, die bisher weltweit gefunden wurde, denn die meisten weltweit untersuchten Nistplätze einschließlich derer im Norden Brasiliens enthalten keine Hybriden, und an den seltenen karibischen Nistplätzen finden sich nicht mehr als 2 % Hybriden. Deshalb ist eine detaillierte Untersuchung zum Verständnis des Hybridisierungsprozess notwendig, um die natürlichen Ursachen oder durch menschliche Einflüsse bedingten Ursachen zu erfassen, die für dieses regionale Phänomen innerhalb Brasiliens verantwortlich sein könnten. Das Wissen in Bezug auf die Ursachen wäre ein sehr wichtiger Faktor, der einen bedeutenden Einfluss auf die Erhaltung dieser Population haben dürfte. Wir analysierten dazu ein Set von 12 nukleären Markern, um das Muster der Hybridisierung zwischen den drei involvierten Arten von Meeresschildkröten zu untersuchen: Echte Karettschildkröte (E. imbricata), Unechte Karettschildkröte (Caretta caretta) und Bastardschildkröte (Lepidochelys olivacea). Unsere Ergebnisse zeigen, dass die meisten Individuen aus einer Paarung von L. olivacea mit E. imbricata oder L. olivacea mit C. caretta stammen und F1-Hybriden sind, während Kreuzungen von C. caretta mit E. imbricata sowohl F1-Hybriden sind, als auch Tiere enthalten, die schon wieder Rückkreuzungen aus beiden Spezies sind. Zusätzlich scheint die Hybridisierung zwischen C. caretta und E. imbricata geschlechts- und speziesbeeinflusst zu sein, und wir fanden eine Schildkröte, die ein Multispezieshybrid aus C. caretta, E. imbricata und Chelonia mydas war. Die Zusammenfassung der Ergebnisse deutet an, dass es sich bei diesem regionalen Hybridisierungsphänomen, um ein junges Ereignis handelt, dass aber mindestens über zwei Generationen oder in etwa auf eine Zeitspanne von 40 Jahren zurückgeht.

Echte Karettschildkröte, Eretmochelys imbricata, – © Enrico Marcovaldi
Echte Karettschildkröte,
Eretmochelys imbricata,
© Enrico Marcovaldi

Kommentar von H.-J. Bidmon

Auch hier wieder ein exzellentes Beispiel, dass es auch unter natürlichen Umständen zu Hybridisierungen kommt und dass diese Hybriden fruchtbar sind, denn sonst hätte man weder Individuen, die schon aus Rückkreuzungen hervorgegangen sind gefunden, noch wäre es zur Bildung von einem Multispezieshybrid gekommen. Hier sehen wir das Gleiche, wie es für Graptemys kürzlich von Freedberg & Myers (2012) oder Terrapene c. major (Butler et al. 2011) beschrieben wurde. Nur dass wir es hier nicht nur retrospektiv feststellen, sondern es noch aktiv miterleben können. Zudem wird hier der Nachweis erbracht, dass man mit natürlichen Multihybriden rechnen muss, und wenn man aus solchen Tieren, falls es notwendig sein sollte, zurückzüchten wollte (z. B. in Fällen wie Lonesome George, C. abingdoni), dann braucht man gute Daten, die man eigentlich nur dadurch erhält, dass man Gefangenschaftshybriden mit bekanntem Hybridisierungsmuster analysiert (siehe Kommentar zu Freedberg & Myers 2012). Zudem werden hier auch die Beobachtungen von Lara Ruiz et al. (2006) bestätigt, und man sollte nicht vergessen, dass diese Population wächst und sehr produktiv ist (Da Silva et al. 2007). Letzteres wirft die Frage auf, welche Vorteile könnte die Hybridisierung mit sich bringen? Sind die Hybriden etwa resistenter gegen Schildkröten-Papillomaviren (Herbst et al. 2004; Croft et al. 2004; Stacy et al. 2007), so wie der Hybridfrosch Rana esculenta resistenter gegen eine Verpilzung mit Batrachochytrium dendrobatidis ist (siehe Kommentar zu Spinks et al. 2007)? Oder wählen die Hybriden andere Niststrandzonen und Ablagezeiten als die artreinen Individuen, die ihnen im Hinblick auf umweltbedingte Gelegeverluste (z. B. Überflutung siehe Pike & Stiner 2007) einen Vorteil verschaffen, der erklärt, warum in diesem Küstenabschnitt so verhältnismäßig viele Hybriden überleben und adult werden? Auf jeden Fall wird es hier sehr schwer sein, einen durch den Menschen direkt verursachten Faktor zu ermitteln. Denn vor 40 Jahren hat sich noch niemand mit Schildkrötenhybriden wissenschaftlich beschäftigt und vom Menschen verursachte unnatürliche Zusammenführungen von artfremden Individuen, wie dies beim Verbinden von Flusssystemen über Kanäle der Fall wäre, scheiden aus, da das Meer diese Grenzen nie hatte und Panama- bzw. Suezkanal eigentlich entfernt genug sind, um dafür verantwortlich gemacht zu werden. Natürlich könnte man auch hier die globale Erderwärmung anzuführen versuchen, da sich die Arten vielleicht aufgrund von veränderten Temperaturgradienten im Meer nun saisonabhängig in den Paarungsgründen begegnen, was vielleicht früher oder anderenorts nicht der Fall war. Möglichkeiten gibt es viele, und eines ist sicher, die Bedingungen auf diesem Planeten haben sich immer verändert und werden sich auch weiterhin verändern!

Oliv-Bastardschildkröte, Lepidochelys olivacea, – © Bipro Behera
Oliv-Bastardschildkröte,
Lepidochelys olivacea,
ein weibliches Exemplar
© Bipro Behera

Da diese Veränderungen den Lebewesen neue Anpassungsleistungen im Sinne der Überlebensfähigkeit abverlangen, werden wir auch zukünftig mit solchen Phänomenen zu rechnen haben. Klar ist jedoch auch, dass Hybridisierung oder Introgression, also das Einbringen artfremden genetischen Materials über die von uns abstrakt definierten angeblichen Speziesgrenzen hinweg zu einer enormen Genflusssteigerung innerhalb dieser Population beiträgt, wodurch das Anpassungspotential enorm gesteigert werden kann (siehe Kommentare zu Lenzen et al. 2012, Cardinale et al. 2012, Spinks et al. 2012, Bowen & Karl 2007). Wir kennen das alle von den Bakterien, die sehr schnell über den horizontalen Austausch genetischen Materials Resistenzen gegen Medikamente aufbauen können und zwar auch über Speziesgrenzen hinweg und so ihr Überleben sichern. Insofern haben die Autoren nur bedingt recht, wenn sie einleitend behaupten, dass es sich hier um die größte Ansammlung von Hybriden handelt, denn Letzteres sollte man in diesem Fall wirklich nur auf Schildkröten beziehen, denn Hybriden anderer Spezies oder besser Evolutionslinien gibt es weit mehr (z.B. in unserer Darmflora), nur wir reden kaum darüber. Wir sollten langsam anfangen zu akzeptieren, dass Hybridisierung eben auf lange Sicht eher mit Überlebenssicherung und Artenvielfalt einhergeht, als mit Artenverlust. Ich gehe fest davon aus, dass, wenn man den Begriff Biodiversität nicht nur als Werbe- oder Begründungsfloskel im Naturerhaltungsmanagement benutzen will, es notwendig wird, sich auf unvoreingenommene, sachliche Art und Weise darüber Klarheit zu verschaffen, wie Introgression und Speziation zusammenwirken, um Artenvielfalt hervorzubringen und zu erhalten. Dazu sind, denke ich, ganz neue Denkansätze (Konzepte) und auch neue sprachliche Definitionen für die Kommunikation im Sinne eines modernen Erhaltungsmanagement erforderlich, denn Nomen est Omen im Sinne einer unmissverständlichen Beschreibung und Bezeichnung. Denn eines ist unbestritten, Artenvielfalt sprich Diversifizierung wirkt systemstabilisierend, das geht schon daraus hervor, dass Arten innerhalb von Netzwerken als biologische Energieträger mit Selbstreproduktionspotential fungieren und ganze zum Teil globale Nahrungsketten in Form von Energieflüssen aufrechterhalten (siehe Kommentar zu Saenz-Arroyo et al. 2006). Trotzdem kann Introgession dazu beitragen, sich einer sich verändernden Umwelt besser anzupassen, um das Überlebenspotential so lange wie möglich hoch zu halten (siehe obige Kommentare). Darüber nachzudenken lohnt sich, denn wir gehen zwar insbesondere in der molekularen Systematik davon aus, dass Arteigenschaften möglichst konstant vererbt werden, aber stimmt das wirklich vor dem Hintergrund, dass neuartige Umweltveränderungen ja vielleicht zum Zeitpunkt der Zeugung oder Geburt eines Lebewesens noch gar nicht eingetreten waren?. Das wirft die Frage auf, wie verhält sich biologische Materie in diesem Fall? – Nach Richardson (2012) intelligent und ich denke Letzteres sollten wir auch tun, insbesondere, da man langsam und vor dem Hintergrund, dass es vielfältige Kriterien zur phylogenetischen Speziesabgrenzung gibt, auch anfängt den Begriff einer „partiell gerichteten oder modulierten Evolution“ gegenüber einer ungerichteten stochastischen Evolution und Selektion neu zu überdenken und zu diskutieren (siehe Koonin 2012).

Literatur

Bowen, B. W. & S. A. Karl (2007): Population genetics and phylogeography of sea turtles. – Molecular Ecology 16(23): 4886-4907 oder Abstract-Archiv.

Butler, J. M, C. K. Dodd, M. Aresco & J. D. Austin (2011): Morphological and molecular evidence indicates that the Gulf Coast box turtle (Terrapene carolina major) is not a distinct evolutionary lineage in the Florida Panhandle. – Biological Journal of the Linnean Society 102(4): 889-901 oder Abstract-Archiv.

Cardinale, B. J., J. E. Duffy, A. Gonzalez, D. A. Hooper, C. Perrings, P. Venail, A. Narwani, G. M. Mace, D. Tilman, D. A. Wardle, A. P. Kinzig, G. C. Daily, M. Loreau, J. B. Grace, A. Larigauderie, D. S. Srivastava & S. Naeem (2012): Biodiversity loss and its impact on humanity. – Nature 486(7401): 59-67 oder Abstract-Archiv.

Croft, L. A., J. P. Graham, S. A. Schaf & E. R. Jacobson (2004): Evaluation of magnetic resonance imaging for detection of internal tumors in green turtles with cutaneous fibropapillomatosis. – JAVMA – Journal of the American Veterinary Medical Association 225(9): 1428-1435 oder Abstract-Archiv.

Da Silva, A. C. C. D., J. C. de Castilhos, G. G. Lopez & P. C. R. Barata (2007): Nesting biology and conservation of the olive ridley sea turtle (Lepidochelys olivacea) in Brazil, 1991/1992 to 2002/2003. – Journal of the Marine Biological Association of the United Kingdom 87(4): 1047-1056 oder Abstract-Archiv.

Freedberg, S. & E. M. Myers (2012): Cytonuclear equilibrium following interspecific introgression in a turtle lacking sex chromosomes. – Biological Journal of the Linnean Society 106(2): 405-417 oder Abstract-Archiv.

Herbst, L., A. Ene, M. Su, R. Desalle & J. Lenz (2004): Tumor outbreaks in marine turtles are not due to recent herpesvirus mutations. – Current Biology 14(17): R697-R699 oder Abstract-Archiv.

Koonin, E. V. (2012): A half-century after the molecular clock: new dimensions of molecular evolution. – EMBO Report 13 (8): 664-666.

Lara-Ruiz, P., G. G. Lopez, F. R. Santos & L. S. Soares (2006): Extensive hybridization in hawksbill turtles (Eretmochelys imbricata) nesting in Brazil revealed by mtDNA analyses. – Conservation Genetics 7(5): 773-781 oder Abstract-Archiv.

Lenzen, M., D. Moran, K. Kanemoto, B. Foran, L. Lobefaro & A. Geschke (2012): International trade drives biodiversity threats indeveloping nations. – Nature 486(7401): 109-112 oder Abstract-Archiv.

Pike, D. A. & J. C. Stiner (2007): Sea turtle species vary in their susceptibility to tropical cyclones. – Oecologia 153(2): 471-478 oder Abstract-Archiv.

Richardson, K. (2012): Heritability lost; intelligence found. Intelligence is integral to the adaptation and survival of all organisms faced with changing environments. – EMBO reports 13(7): 591-595; DOI: 10.1038/embor.2012.83 ➚.

Saenz-Arroyo, A., C. M. Roberts, J. Torre, M. Carino-Olvera & J. P. Hawkins (2006): The value of evidence about past abundance: marine fauna of the Gulf of California through the eyes of 16th to 19th century travellers. – Fish and Fisheries 7(2): 128-146 oder Abstract-Archiv.

Spinks, P. Q. & H. B. Shaffer (2007): Conservation phylogenetics of the Asian box turtles (Geoemydidae, Cuora): mitochondrial introgression, numts, and inferences from multiple nuclear loci. – Conservation Genetics 8(3): 641-657 oder Abstract-Archiv.

Spinks, P Q., R. C. Thomson, Y. P. Zhang, J. Che, Y. Wu & H. B. Shaffer (2012): Species boundaries and phylogenetic relationships in the critically endangered Asian box turtle genus Cuora. – Molecular Phylogenetics and Evolution 63(3): 656-667oder Abstract-Archiv.

Stacy, B. A., J. F. Wellehan, A. M. Foley, S. S. Coberley, L. H. Herbst, C. A. Manire, M. M. Garner, M. D. Brookins, A. L. Childress & E. R. Jacobson (2008): Two herpesviruses associated with disease in wild Atlantic loggerhead sea turtles (Caretta caretta). – Veterinary Microbiology 126(1-3): 63-73 oder Abstract-Archiv.

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