Europäische Sumpfschildkröte, Emys orbicularis, – © Hans-Jürgen Bidmon

Velo-Antón - 2012 - 01

Velo-Anton, G., C. G. Becker & A. Cordero-Rivera (2012): Turtle Carapace Anomalies: The Roles of Genetic Diversity and Environment. – PLOS ONE 6(4): e18714.

Carapaxanomalien bei Schildkröten: Die Rolle der genetischen Vielfalt und der Umwelt.

DOI: 10.1371/journal.pone.0018714 ➚

 Emys orbicularis, Europäische Sumpfschildkröte – © Hans-Jürgen-Bidmon
Europäische Sumpfschildkröte,
Emys orbicularis,
© Hans-Jürgen-Bidmon

Hintergrund: Phänotypische Anomalien kommen in wild lebenden Populationen häufiger vor und vielfältige genetische, biologische und abiotische Faktoren könnten zu deren Ausbildung beitragen. Schildkröten sind ausgezeichnete Modelltiere zum Studium der so genannten Entwicklungsinstabilität, da Anomalien (Formveränderungen) sehr leicht als Missbildung oder Additionen (überzählige Schilder) bzw. Reduktionen (fehlende Schilder) am Panzer oder bei der Beschuppung zu erkennen sind.
Methode/Hauptergebnisse: Bei dieser Studie integrierten wir Freilandbeobachtungen, manipulative Experimente sowie klimatische und
genetische Untersuchungen, um die Ursachen für Carapax-Schildanomalien bei den iberischen Populationen der Europäischen Sumpfschildkröte, Emys orbicularis zu untersuchen. Der Anteil an anormal geformten Individuen schwankte bei verschiedenen lokalen Populationen von 3 % bis zu 69 %, wobei in den nördlichsten Verbreitungsregionen eine deutliche Zunahme der Anomalien beobachtet wurde. Wir fanden keine signifikanten Auswirkungen der klimatischen Bedingungen wie des Wassergehalts des Bodens (Inkubationssubstrat) oder der Temperatur auf die Anomaliehäufigkeit. Allerdings zeigte sich, dass eine Abnahme der genetischen Diversität und Inzucht gute Parameter darstellten, um die Häufigkeit des Auftretens von Schildanomalien bei einzelnen Untersuchungspopulationen vorherzusagen. Beides, die Abnahme der genetischen Diversität und die zunehmende Anzahl an Individuen mit Schildanomalien in den nördlichen Verbreitungsregionen der iberischen Halbinsel gehen sehr wahrscheinlich auf Wiederbesiedlungsereignisse von Schildkröten, die sich während des Pleistozäns nach Süden zurückgezogen hatten.
Schlussfolgerung/Signifikanz: Generell lassen unsere Ergebnisse die Vermutung zu, dass die Entwicklungsinstabilität bei der Bildung des Schildkrötencarapax‘ zum Teil durch genetische Faktoren verursacht wird, obwohl wir auch den Einfluss der Umweltfaktoren, die die Carapaxentwicklung beeinflussen können, nicht ganz ausschließen können. Zusätzliche Studien sind notwendig, um die Umweltfaktoren wie Umweltverschmutzung (Umweltgifte) sowie die Vererbbarkeit von solchen Anomalien genauer zu analysieren, um die Komplexität der Ursachen für die Anomalien in diesen natürlichen Populationen besser zu verstehen.

Kommentar von H.-J. Bidmon

Eine Studie die aufhorchen lässt und die dazu aufruft, im Hinblick auf so manches Nachzuchtprogramm für stark bedrohte, individuenschwache Schildkrötenspezies doch schnell zu einer Klärung des Sachverhalts beizutragen. Denn wenn die genetische Verarmung von Populationen, die nur auf wenige eingewanderte Gründerindividuen während des Pleistozäns zurückzuführen wären, für die Fehlbildungen verantwortlich wären, wäre dies ein Paradebeispiel dafür, wie sich genetische Verarmung langfristig bei Schildkröten auswirken kann und warum wahrscheinlich selbst ein genetischer Austausch über von Taxonomen abstrakt festgelegte Unterart- oder gar Artgrenzen hinweg vorteilhaft sein kann (siehe Freedberg & Myers 2012). Ja, letztendlich wäre es dann sogar sinnvoll, darüber nachzudenken, Jungtiere zwischen den einzelnen (spanischen) Populationen umzusiedeln, um den stabilisierenden Genfluss zwischen den getrennten Populationen wieder zu gewährleisten. Wenn sich die Befunde und Vermutungen der Autoren bestätigen, dann wäre auf alle Fälle klar gezeigt, dass für Schildkröten diese genetische Verarmung über lange Zeiträume selbst in der freien Wildbahn verheerender sein können als z. B. die Hybridisierung. Denn bei Letzteren wurde auch für die verschiedensten Spezieskombinationen nie beschrieben, dass es verstärkt zu Anomalien kam. Viel eher wurde berichtet, dass diese Hybridindividuen meist der Spezies, zur der das Muttertier gehörte, zum Verwechseln ähnlich sehen (Lara-Ruiz et al. 2006, Parham 2008, Spinks et al. 2012, Suzuki et al. 2012, Xia et al. 2011). Allerdings sollte sicherheitshalber auch einmal versucht werden zu analysieren, wie sich eventuell in der Vergangenheit erfolgte Einkreuzungen von Emys-Exemplaren aus ganz anderen geographischen Regionen auf die Populationen möglicherweise ausgewirkt haben könnten. Denn Velo-Anton et al. (2011) berichten ja auch, dass selbst in Spanien Emys-Haplotypen nachgewiesen werden können, die wohl ursprünglich auf polnische oder besser gesagt osteuropäische Individuen schließen lassen. Solche osteuropäischen Tiere dürften sicher ihrem Herkunftsgebiet entsprechend an niedrigere Inkubationstemperaturen angepasst sein als autochthone spanische Tiere und damit würde sich vielleicht auch klären lassen, ob abiotische Faktoren wie eine für diese allochthonen Individuen zu hohe Inkubationstemperatur zu Anomalien führen kann. Allerdings wäre bei solchen Mischindividuen dann dennoch die genetische Diversität erhöht.
Als Schildkrötenhalter sollte man sich auf alle Fälle merken, dass die genetische Diversität auch in der Schildkrötenhaltung sehr eingeschränkt ist. Bei Ursprungstieren, die vielleicht noch auf Wildfänge zurückgehen, mag sie ja noch hoch sein, aber spätestens wenn man mit der F1-Generation oder gar schon mit der F2-Generation züchtet, die nur von wenigen Gründertieren abstammen, könnte man schon mit vermehrten Anomalien rechnen. Beobachten Sie vielleicht einfach einmal, wie häufig und bei welchen Elternindividuen Schildanomalien auftreten, auch ohne dass die Inkubationstemperatur zu hoch war.

Literatur

Freedberg, S. & E. M. Myers (2012): Cytonuclear equilibrium following interspecific introgression in a turtle lacking sex chromosomes. – Biological Journal of the Linnean Society 106(2): 405-417 oder Abstract-Archiv.

Lara-Ruiz, P., G. G. Lopez, F. R. Santos & L. S. Soares (2006): Extensive hybridization in hawksbill turtles (Eretmochelys imbricata) nesting in Brazil revealed by mtDNA analyses. – Conservation Genetics 7(5): 773-781 oder Abstract-Archiv.

Parham, J. F. (2008): Rediscovery of an „extinct“ Galapagos tortoise. – PNAS – Proceedings of the National Academy of Science of the U.S.A. 105(40): 15227-15228 oder Abstract-Archiv.

Spinks, P. Q., R. C. Thomson, Y. P. Zhang, J. Che, Y. Wu & H. B. Shaffer (2012): Species boundaries and phylogenetic relationships in the critically endangered Asian box turtle genus Cuora. – Molecular Phylogenetics and Evolution 63(3): 656-667 oder Abstract-Archiv.

Suzuki, D., H. Ota, H-S. Oh & T. Hikida (2011): Origin of Japanese Populations of Reeves’ Pond Turtle, Mauremys reevesii (Reptilia: Geoemydidae), as Inferred by a Molecular Approach. – Chelonian Conservation and Biology 10(2): 237-249 oder Abstract-Archiv.

Velo-Anton, G., Wink, M., Schneeweiss, N. & U. Fritz (2011): Native or not? Tracing the origin of wild-caught and captive freshwater turtles in a threatened and widely distributed species (Emys orbicularis). – Conservation Genetics 12(2): 583-588 oder Abstract-Archiv.

Xia, X., L. Wang, L. Nie, Z. Huang, Y. Jiang, W. Jing & L. Liu (2011): Interspecific hybridization between Mauremys reevesii and Mauremys sinensis: Evidence from morphology and DNA sequence data. – African Journal of Biotechnology 10(35): 6716-6724 oder Abstract-Archiv.

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